Die Richtlinie zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel* regelt u. a. den Großhandel mit Arzneimitteln. Sie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten den Großhandel mit Arzneimitteln vom Besitz einer Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers abhängig machen, selbst wenn zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit befugte Personen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gleichzeitig die Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers ausüben dürfen.
Nach dem italienischen Recht dürfen Apotheker und Apothekengesellschaften, die Inhaber einer Apotheke sind, unter bestimmten Voraussetzungen die Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers ausüben. Nach diesem Recht ist für den Arzneimittelgroßhandel der Besitz einer durch die Region oder die autonome Provinz erteilten Genehmigung erforderlich. Jeder Verstoß gegen die nationalen Rechtsvorschriften wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe von 10.000 bis 100.000 Euro bestraft.
Gegen einige Apotheker wurde in Italien Strafanzeige gestellt wegen Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers ohne Genehmigung. Im Rahmen eines gegen Herrn Caronna eingeleiteten Strafverfahrens fragt das Tribunale di Palermo (erstinstanzliches Gericht von Palermo, Italien) den Gerichtshof, ob das in der Richtlinie vorgesehene Erfordernis einer Genehmigung für den Großhandel mit Arzneimitteln für Apotheker gilt, die als natürliche Personen nach dem nationalen Recht bereits zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit befugt sind. Der Gerichtshof wird außerdem gefragt, ob Apotheker sämtlichen Anforderungen genügen müssen, die ein Arzneimittelgroßhändler erfüllen muss, oder ob es genügt, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die im nationalen Recht für den Arzneimitteleinzelhandel vorgeschrieben sind.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Richtlinie (Art. 77) den Mitgliedstaaten eine allgemeine Verpflichtung auferlegt, den Großhandel mit Arzneimitteln von einer Sondergenehmigung abhängig zu machen; diese Verpflichtung gilt auch für Personen, die zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit ermächtigt oder befugt sind, wenn sie auch die Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers ausüben dürfen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Apotheker zu der weiter gefassten Kategorie der zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit ermächtigten oder befugten Personen gehören und, wenn sie nach dem nationalen Recht Arzneimittel über den Großhandel vertreiben dürfen, zuvor diese in der Richtlinie vorgesehene Genehmigung einholen müssen.
Aus der Richtlinie ergibt sich, dass Apotheker und zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit befugte Personen, die nur diese Tätigkeit ausüben, vom Erfordernis der Genehmigung für den Großhandel mit Arzneimitteln befreit sind. Folglich gilt das in der Richtlinie vorgesehene Erfordernis einer Genehmigung für den Großhandel mit Arzneimitteln für Apotheker, die als natürliche Personen nach dem nationalen Recht befugt sind, auch eine Tätigkeit als Arzneimittelgroßhändler auszuüben.
Der Gerichtshof weist anschließend darauf hin, dass die Bedingungen für die Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit derzeit auf Unionsebene nicht harmonisiert sind und dass sich folglich die Regelung über den Einzelhandelsvertrieb von Arzneimitteln von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheidet.
Die Mindestanforderungen, die für den Arzneimittelgroßhandel erfüllt sein müssen, sind hingegen durch die Richtlinie harmonisiert worden**. Die Erfüllung der vorgeschriebenen Bedingungen unterliegt während der gesamten Geltungsdauer der Genehmigung einer Kontrolle.
Da der Arzneimitteleinzelhandel andere Merkmale aufweist als der Arzneimittelgroßhandel, lässt sich nicht aufgrund des bloßen Umstands, dass die von den Mitgliedstaaten für den Einzelhandel festgelegten Bedingungen erfüllt sind, annehmen, dass auch die nach den auf Unionsebene harmonisierten Vorschriften für den Großhandel vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind.
Um die Erreichung der Richtlinienziele – insbesondere Ziele des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Beseitigung der Hindernisse für den Handel mit Arzneimitteln innerhalb der Union und der Kontrolle des gesamten Großhandelsvertriebsnetzes im Arzneimittelbereich – sicherzustellen, müssen die Mindestanforderungen für den Arzneimittelgroßhandel daher in allen Mitgliedstaaten in einheitlicher Weise erfüllt werden.
Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass eine nationale Behörde bei der Erteilung von Genehmigungen für den Arzneimittelgroßhandel an Apotheker eine eventuell bestehende Gleichwertigkeit mit den nach dem nationalen Recht für den Einzelhandel vorgesehenen Bedingungen berücksichtigt.
Der Gerichtshof untersucht sodann die Auswirkung dieser Antwort auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Herrn Caronna. Er weist darauf hin, dass die nationalen Gerichte zwar die Auslegung des innerstaatlichen Rechts am Zweck einer Richtlinie ausrichten müssen, diese Verpflichtung im Bereich des Strafrechts jedoch gewissen Grenzen unterliegt. Eine Richtlinie kann daher nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieser Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen.
Sollte das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass das nationale Recht in der auf den Sachverhalt dieser Rechtssache anwendbaren Fassung nicht bestimmte, dass Apotheker für den Arzneimittelgroßhandel einer Sondergenehmigung bedürfen, und keine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Apotheker vorsah, so verbietet der Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“***, ein solches Verhalten strafrechtlich zu sanktionieren, und zwar auch dann, wenn die nationale Regelung unionsrechtswidrig sein sollte.
Erläuterungen
Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67).
** Es handelt sich u. a. um die Anforderungen in Bezug auf geeignete Räumlichkeiten, Anlagen und Einrichtungen sowie qualifiziertes Personal, um eine ordnungsgemäße Lagerung und einen ordnungsgemäßen Vertrieb der Arzneimittel zu gewährleisten, und um die Anforderungen in Bezug auf Unterlagen über Ein- und Ausgänge, die Lieferung von Arzneimitteln und die Beachtung guter Vertriebspraktiken.
*** Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 49 Abs. 1).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 28.06.2012
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online