22.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil29.03.2012

Polnische Richtlinien zum Inver­kehr­bringen nicht zugelassener Arzneimittel verstoßen gegen UnionsrechtFinanzielle Erwägungen rechtfertigen Einfuhr und Inver­kehr­bringen der Medikamente nicht

Polnische Rechts­vor­schriften, die das Inver­kehr­bringen nicht zugelassener ausländischer Arzneimittel erlauben, die billiger aber den bereits genehmigten gleichartig sind, verstoßen gegen das Unionsrecht. Finanzielle Erwägungen können das Inver­kehr­bringen solcher Arzneimittel nicht rechtfertigen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Nach der Richtlinie 2001/83* darf ein Arzneimittel in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden, wenn von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats oder der Europäischen Arznei­mit­te­l­agentur eine Genehmigung für das Inver­kehr­bringen erteilt wurde. Jedoch kann ein Mitgliedstaat in besonderen Bedarfsfällen ausnahmsweise vorsehen, dass dieses Erfordernis nicht für Arzneimittel gilt, die auf eine nach Treu und Glauben aufgegebene Bestellung, für die nicht geworben wurde, geliefert werden und die nach den Angaben eines zugelassenen Angehörigen der Gesund­heits­berufe hergestellt werden und zur Verabreichung an einen bestimmten Patienten unter seiner unmittelbaren persönlichen Verantwortung bestimmt sind.

Kommission erhebt gegen Polen Vertrags­ver­let­zungsklage beim Gerichtshof der Europäischen Union

Die Kommission hat die vorliegende Vertrags­ver­let­zungsklage beim Gerichtshof erhoben, weil sie der Auffassung ist, dass die polnischen Rechts­vor­schriften mit der Richtlinie unvereinbar seien. Denn die Vorschrift erlaubt, aus dem Ausland eingeführte Arzneimittel, die dieselben Wirkstoffe, Dosierungen und Darrei­chungs­formen wie Arzneimittel aufweisen, die in Polen die Genehmigung für das Inver­kehr­bringen unter der Voraussetzung erhalten haben, dass deren Preis im Verhältnis zum Preis der Erzeugnisse, für die eine solche Genehmigung erteilt wurde, wettbe­wer­bsfähig ist.

Möglichkeit der Einfuhr nicht zugelassener Medikamente erfordert besondere Bedürfnisse der Patienten

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass das harmonisierte Verfahren zur Erteilung von Genehmigungen für das Inver­kehr­bringen einen Marktzugang zu wirtschaftlich vernünftigen und nicht­dis­kri­mi­nie­renden Bedingungen erlaubt und zugleich den notwendigen Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleistet. Weiter erinnert er daran, dass die Möglichkeit, nicht zugelassene Arzneimittel einzuführen, die nationale Rechts­vor­schriften in Anwendung der in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme eröffnen, die Ausnahme bleiben muss und nur ausgeübt werden kann, wenn dies unter Berück­sich­tigung der besonderen Bedürfnisse der Patienten erforderlich ist.

Besondere Erfordernisse müssen medizinisch begründet sein und sich auf gerechtfertigte Einzelfälle beschränken

Der Begriff „besondere Bedürfnisse“ bezieht sich allein auf aus medizinischen Gründen gerechtfertigte Einzelfälle und setzt voraus, dass das Arzneimittel erforderlich ist, um den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden. Ferner bedeutet das Erfordernis, dass die Arzneimittel „auf eine nach Treu und Glauben aufgegebene Bestellung, für die nicht geworben wurde“, geliefert werden müssen, dass das Arzneimittel vom Arzt nach einer tatsächlichen Untersuchung seiner Patienten und aufgrund rein therapeutischer Erwägungen verschrieben worden sein muss.

Folglich kann die in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme nur Situationen betreffen, in denen nach Ansicht des Arztes der Gesund­heits­zustand seiner einzelnen Patienten die Verabreichung eines Arzneimittels erfordert, für das es auf dem nationalen Markt kein genehmigtes Äquivalent gibt oder das auf diesem Markt nicht verfügbar ist.

Finanzielle Erwägungen kein Grund der Ausnah­me­ge­neh­migung rechtfertigt

Sind also Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen, derselben Dosierung und derselben Darrei­chungsform wie die, die der behandelnde Arzt für die Behandlung seiner Patienten verschreiben zu müssen glaubt, bereits genehmigt und auf dem nationalen Markt verfügbar, kann von „besonderen Bedarfsfällen“, die eine Ausnahme von dem Erfordernis der Genehmigung für das Inver­kehr­bringen verlangen, keine Rede sein. Allein aufgrund finanzieller Erwägungen kann nicht vom Vorliegen solcher besonderer Bedarfsfälle ausgegangen werden, mit denen die Anwendung der Ausnahme gerechtfertigt werden kann.

Beanstandete polnischen Rechts­vor­schriften stellt nicht auf tatsächliche Nicht­ver­füg­barkeit eines genehmigten Arzneimittels im Inland ab, sondern „Wettbe­wer­bs­fä­higkeit“

Der Gerichtshof stellt fest, dass die beanstandeten polnischen Rechts­vor­schriften eine Ausnahme vom Erfordernis der Genehmigung für das Inver­kehr­bringen einführen, die nicht auf die tatsächliche Nicht­ver­füg­barkeit eines genehmigten Arzneimittels im Inland, sondern darauf abstellt, dass der Preis „wettbe­wer­bsfähig“, also geringer als der des äquivalenten Arzneimittels ist. Nach diesen Bestimmungen sind somit die Einfuhr und das Inver­kehr­bringen von Arzneimitteln, die nicht erforderlich sind, um besonderen medizinischen Bedarfsfällen gerecht zu werden, im Inland ohne Genehmigung für das Inver­kehr­bringen zulässig.

Gewährleisten des finanziellen Gleichgewichts des nationalen Sozia­l­ver­si­che­rungs­systems als Recht­fer­ti­gungsgrund nicht ausreichend

Der Gerichtshof weist das Vorbringen Polens zurück, wonach die Einfuhr und das Inver­kehr­bringen eines Arzneimittels im Inland, das kostengünstiger als ein äquivalentes Arzneimittel ist, für das eine Genehmigung für das Inver­kehr­bringen vorliegt, aus finanziellen Erwägungen gerechtfertigt werden könnten, soweit Einfuhr und Inver­kehr­bringen erforderlich seien, um das finanzielle Gleichgewicht des nationalen Sozia­l­ver­si­che­rungs­systems zu gewährleisten und Patienten mit beschränkten finanziellen Mitteln den Zugang zu der von ihnen benötigten Behandlung zu erlauben.

Mitgliedstaaten müssen bei Regulierung des finanziellen Gleichgewichts der Kranken­ver­si­che­rungs­systeme Unionsrecht beachten

Der Gerichtshof erinnert insoweit daran, dass das Unionsrecht zwar die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und insbesondere zum Erlass von Vorschriften zur Regulierung des Verbrauchs pharma­zeu­tischer Erzeugnisse im Hinblick auf die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts ihrer Kranken­ver­si­che­rungs­systeme unberührt lässt, dass die Mitgliedstaaten jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten müssen.

Ausnah­me­vor­schrift gilt nur für besondere medizinische Bedarfsfälle

Die in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme betrifft weder die Organisation des Gesund­heits­wesens noch dessen finanzielles Gleichgewicht, sondern stellt eine spezifische Ausnah­me­vor­schrift dar, die eng auszulegen ist und nur in Ausnahmefällen auf besondere medizinische Bedarfsfälle Anwendung findet. Schließlich stellt der Gerichtshof klar, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festsetzung der Arznei­mit­tel­preise und der vom nationalen Kranken­ver­si­che­rungs­system aufgrund der gesund­heit­lichen, wirtschaft­lichen und sozialen Bedingungen zu leistenden Erstat­tungssätze unberührt bleibt.

EuGH rügt Verstoß gegen unions­rechtliche Verpflichtungen

Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass Polen gegen seine unions­recht­lichen Verpflichtungen verstoßen hat.

Erläuterungen

* Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemein­schafts­kodexes für Humana­rz­nei­mittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 (ABl. L 324, S. 121) geänderten Fassung.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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