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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil29.10.2009

EuGH zum Kündi­gungs­schutz schwangerer Arbeit­neh­me­rinnenWirksamer gerichtlicher Schutz aus Gemein­schaftsrecht darf bei Klagen auf Nichti­g­er­klärung einer Kündigung nicht durch unangemessen kurze Fristen erschwert werden

Schwangeren Arbeit­neh­me­rinnen, denen gekündigt wurde, muss ein wirksamer gerichtlicher Schutz der ihnen aus dem Gemein­schaftsrecht erwachsenden Rechte zur Verfügung stehen. Wenn das nationale Recht für den einzigen Rechtsbehelf, den es Arbeit­neh­me­rinnen, denen während ihrer Schwangerschaft gekündigt wurde, zur Verfügung stellt, keine angemessenen Rechts­be­helfs­fristen vorsieht, stellt dies eine ungünstigere Behandlung im Zusammenhang mit Schwangerschaft und eine Diskriminierung weiblicher Arbeitnehmer dar. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.

Nach den Bestimmungen des luxemburgischen Arbeits­ge­setzbuchs zur Umsetzung der Richtlinie 92/85/EWG (siehe unten) ist es verboten, einer Arbeitnehmerin während ihrer ärztlich festgestellten Schwangerschaft sowie während eines Zeitraums von zwölf Wochen nach der Entbindung zu kündigen. Will eine während der Schwangerschaft gekündigte Arbeitnehmerin Klage auf Nichti­g­er­klärung der Kündigung und Wieder­ein­stellung erheben, muss sie nach luxemburgischem Recht eine Klagefrist von fünfzehn Tagen einhalten, die mit dem Zeitpunkt der Auflösung des Vertrags beginnt.

Sachverhalt

Frau Virginie Pontin arbeitete seit November 2005 für das luxemburgische Unternehmen T-Comalux. Am 25. Januar 2007 wurde ihr „wegen schwerwiegender Pflicht­ver­letzung“ aufgrund einer „mehr als dreitägigen ungerecht­fer­tigten Abwesenheit“ fristlos gekündigt. Am Folgetag teilte Frau Pontin T-Comalux mit, dass sie schwanger sei und die ihr gegenüber ausgesprochene Kündigung aufgrund des rechtlichen Schutzes schwangerer Arbeit­neh­me­rinnen nichtig sei. Da sie von T-Comalux keine Antwort erhielt und die ihr gegenüber ausgesprochene Kündigung als missbräuchlich ansah, rief sie am 18. April 2007 das Arbeitsgericht Esch-sur-Alzette (Luxemburg) an, um die Nichtigkeit dieser Kündigung feststellen zu lassen.

Arbeitsgericht bittet Gerichtshof um Klärung, ob Gemein­schaftsrecht nationalen Rechts­vor­schriften entgegensteht

Das Arbeitsgericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechts­vor­schriften entgegensteht, die zum einen die Klage einer Arbeitnehmerin, der während der Schwangerschaft gekündigt wurde, von der Einhaltung kurzer Fristen abhängig macht, die geeignet sind, der Betroffenen die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Rechte zu nehmen, und die zum anderen der Betroffenen die allen anderen Arbeitnehmern offen stehende Möglichkeit vorenthalten, eine Schaden­s­er­satzklage gegen den Arbeitgeber zu erheben.

Nationale Maßnahmen müssen wirksamen Rechtsschutz sicherstellen

Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um demjenigen, der sich in seinen Rechten beeinträchtigt sieht, entsprechend dem Grundsatz des gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Gemein­schaftsrecht erwachsenden Rechte zu ermöglichen, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen. Dementsprechend müssen schwangere Arbeit­neh­me­rinnen, Wöchnerinnen und stillende Arbeit­neh­me­rinnen vor den Folgen einer möglicherweise rechtswidrigen Kündigung geschützt werden. Die nationalen Maßnahmen müssen geeignet sein, einen tatsächlichen und wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber haben und in jedem Fall in angemessenem Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen. Es obliegt dem nationalen Gericht, das allein eine unmittelbare Kenntnis der Verfah­rens­mo­da­litäten des inner­staat­lichen Rechts besitzt, zu prüfen, ob diese Grundsätze beachtet wurden.

Klagefristen dürfen Durchsetzung von Rechten nicht unnötig erschweren

Dem Gerichtshof zufolge können die Mitgliedstaaten zwar angemessene Fristen für die Erhebung einer Klage festlegen, doch dürfen solche Fristen nicht die Ausübung der durch die Gemein­schafts­rechts­ordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Die Verfah­rens­mo­da­litäten, die für die Klage eines gekündigten Arbeitnehmers auf Nichti­g­er­klärung der Kündigung und Wieder­ein­stellung gelten, bringen möglicherweise Nachteile mit sich, die es schwangeren Arbeit­neh­me­rinnen übermäßig erschweren können, ihre ihnen aus dem Gemein­schaftsrecht erwachsenden Rechte durchzusetzen.

Frist von fünfzehn Tagen für Nichti­g­er­klärung der Kündigung zu kurz

Die Frist von fünfzehn Tagen ist nach Ansicht des Gerichtshofs besonders kurz, um sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls eine Klage auf Nichti­g­er­klärung der Kündigung oder Wieder­ein­stellung einzureichen. Zudem können, bevor die schwangere Frau das Kündi­gungs­schreiben erhält, mehrere Tage vergehen, die in die Fünfzehn­ta­gesfrist eingerechnet werden, da der Lauf dieser Frist nach der Rechtsprechung der luxemburgischen Gerichte offenbar mit der Aufgabe des Kündi­gungs­schreibens zur Post und nicht mit dessen Zugang beginnt. Sollte das nationale Gericht nach der ihm obliegenden Prüfung der Sach- und Rechtslage zu dem Ergebnis gelangen, dass die Ausschlussfrist von fünfzehn Tagen nicht dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen durch das Gemein­schaftsrecht verliehenen Rechte genügt, stünde diese Frist im Widerspruch zur Richtlinie 92/85.

Zuständiges Arbeitsgericht schließt Klage auf Schadensersatz aus

Dem vorlegenden Gericht zufolge kann eine Arbeitnehmerin, der während der Schwangerschaft gekündigt wurde, nur auf Nichti­g­er­klärung der Kündigung und Wieder­ein­stellung klagen; andere Klagen im Rahmen des Arbeitsrechts, wie eine Klage auf Schadensersatz, seien ausgeschlossen.

Verstoß gegen Grundsatz der Gleich­be­handlung von Männern und Frauen

Sollte sich daher nach Prüfung durch das vorlegende Gericht herausstellen, dass die Verfah­rens­mo­da­litäten im Zusammenhang mit der einzigen Klagemög­lichkeit bei Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin nicht dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Gemein­schaftsrecht verliehenen Rechte genügen, wäre eine solche Einschränkung der Klagemög­lich­keiten infolgedessen eine ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft und somit eine Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 76/207/EWG (siehe unten).

Falls das vorlegende Gericht einen solchen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleich­be­handlung im Sinne der Richtlinie 76/207/EWG feststellen sollte, muss es die inner­staat­lichen Zustän­dig­keits­regeln so weit wie möglich dahin auslegen, dass sie zur Erreichung des Ziels beitragen, einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die schwangeren Frauen aus dem Gemein­schaftsrecht erwachsen.

Richtlinie 92/85/EWG:

Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesund­heits­schutzes von schwangeren Arbeit­neh­me­rinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeit­neh­me­rinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzel­richtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. L 348, S. 1)

Erläuterungen

Richtlinie 76/207/EWG:

Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleich­be­handlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeits­be­din­gungen (ABl. L 39, S. 40) in der durch die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl. L 269, S. 15) geänderten Fassung

Quelle: ra-online, EuGH

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