21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil15.02.2016

Inhaftierung eines Asylbewerbers aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zulässigBefugnis zur Inhaftierung verstößt nicht gegen Schutzniveau der Europäischen Menschen­rechts­konvention

Das Unionsrecht gestattet die Inhaftierung eines Asylbewerbers, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist. Die Stellung eines erneuten Asylantrags durch eine Person, gegen die eine Rückkehr­entscheidung ergangen ist, macht diese Entscheidung nicht hinfällig. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Jahr 1995 stellte J. N. in den Niederlanden einen ersten Asylantrag, der im Jahr 1996 abgelehnt wurde. In den Jahren 2012 und 2013 stellte J. N. erneute Asylanträge. Im Jahr 2014 lehnte der Staatssekretär den letzten dieser Anträge ab, ordnete an, dass J. N. die Europäische Union unverzüglich verlassen muss, und verhängte ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren. Die dagegen erhobene Klage wurde rechtskräftig abgewiesen.

Von 1999 bis 2015 wurde J. N. in 21 Fällen wegen verschiedener Straftaten (hauptsächlich Diebstähle) zu Geldstrafen und Freiheits­s­trafen verurteilt. Zuletzt wurde er im Jahr 2015 wegen eines Diebstahls und der Missachtung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots festgenommen. Er wurde erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und nach deren Verbüßung als Asylbewerber inhaftiert. Während der Verbüßung der Freiheitsstrafe hatte er nämlich einen vierten Asylantrag gestellt.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Zulässigkeit der Inhaftierung

In diesem Kontext hat der mit einer Klage von J. N. befasste Raad van State (Staatsrat, Niederlande) dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage vorgelegt. Er nimmt insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Frage Bezug, in welchen Fällen die Inhaftierung eines Asylbewerbers angeordnet werden kann. Er fragt unter diesen Umständen nach der Gültigkeit der Richtlinie 2013/33, nach der ein Asylbewerber inhaftiert werden kann, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist*.

Vorgesehene Inhaftierung entspricht einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sein Urteil im Rahmen eines Zilvor­a­b­ent­schei­dungs­ver­fahrens erlassen. Er stellt zunächst fest, dass die in der Richtlinie vorgesehene Inhaftierung einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung tatsächlich entspricht. Er weist darauf hin, dass der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer beiträgt. Nach der Grund­recht­echarta der EU hat jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit.

Angemessener Ausgleich zwischen Recht auf Freiheit des Asylbewerbers und Schutz der nationalen Sicherheit muss gewahrt bleiben

Der Gerichtshof prüfte sodann, ob der Unions­ge­setzgeber innerhalb der Grenzen dessen geblieben ist, was zur Erreichung der zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, und ob er einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Freiheit des Asylbewerbers und den mit dem Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung verbundenen Erfordernissen gewahrt hat. Angesichts der Bedeutung des Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer Inhaftierung bestehenden Eingriffs hob der Gerichtshof hervor, dass sich die Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts auf das absolut Notwendige beschränken müssen.

Inhaftierung nur unter Beachtung einer Reihe von Voraussetzungen zulässig

Der Gerichtshof stellt fest, dass ein Asylbewerber nur unter Beachtung einer Reihe von Voraussetzungen inhaftiert werden darf, die u. a. die Dauer der Inhaftierung betreffen (die so kurz wie möglich sein muss). Er fügt hinzu, dass der enge Rahmen für die den zuständigen nationalen Behörden in diesem Kontext zuerkannte Befugnis auch durch die Auslegung der Begriffe "nationale Sicherheit" und "öffentliche Ordnung" gewährleistet wird.

Störung der öffentlichen Ordnung setzt tatsächlich vorliegende hinreichende Gefahr der Grundinteressen der Gesellschaft voraus

So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum Begriff der öffentlichen Sicherheit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst. Infolgedessen können die Beein­träch­tigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beein­träch­tigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren.

Frühere Rückkeh­rent­scheidung wird nicht hinfällig

Der Raad van State teilte dem Gerichtshof mit, dass nach seiner Rechtsprechung die Stellung eines Asylantrags durch eine Person, die von einem Rückfüh­rungs­ver­fahren betroffen sei, zur Folge habe, dass eine frühere Rückkeh­rent­scheidung hinfällig werde. Hierzu hob der Gerichtshof hervor, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115** jedenfalls verlangt, dass ein eingeleitetes Verfahren, das zu einer Rückkeh­rent­scheidung, gegebenenfalls verbunden mit einem Einreiseverbot, geführt hat, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, wenn der Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde. Die Mitgliedstaaten sind nämlich verpflichtet, das mit der Richtlinie 2008/115 verfolgte Ziel der Schaffung einer wirksamen Rückkehr- und Rücküber­nah­me­politik in Bezug auf illegal aufhältige Dritt­staats­an­ge­hörige nicht zu gefährden.

Rückkeh­rent­scheidung darf nicht unnötig verzögert werden

Der Gerichtshof wies ferner darauf hin, dass sich aus der Loyali­täts­pflicht der Mitgliedstaaten sowie den Anforderungen an die Wirksamkeit ergibt, dass die den Mitgliedstaaten auferlegte Pflicht, in den in der Richtlinie genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist. Dieser Pflicht würde nicht genügt, wenn die Umsetzung einer Rückkeh­rent­scheidung dadurch verzögert würde, dass nach der erstin­sta­nz­lichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz das Verfahren nicht in dem Stadium wieder aufgenommen werden könnte, in dem es unterbrochen wurde, sondern von vorne beginnen müsste.

Inhaftierung aus Gründen der nationalen Sicherheit steht mit Schutzniveau der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention im Einklang

Der Gerichtshof führte schließlich aus, dass die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2013/33 eingeräumte Befugnis, Personen aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zu inhaftieren, nicht gegen das Schutzniveau der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK)*** verstößt, die die Inhaftierung einer Person gestattet, gegen die ein Auswei­sungs­ver­fahren "im Gange" ist. Im Ergebnis stellte der Gerichtshof fest, dass die Gültigkeit der Richtlinie 2013/33 durch die Gestattung solcher Inhaf­tie­rungs­maß­nahmen, deren Umfang aufgrund der Erfordernisse der Verhält­nis­mä­ßigkeit eng begrenzt ist, nicht in Frage gestellt wird.

Erläuterungen

*Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180, S. 96)

**Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Dritt­staats­an­ge­höriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

***3 Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil der EMRK.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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