Die Rückführungsrichtlinie* schafft gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Abschiebung von in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen. Diese Drittstaatsangehörigen können unter bestimmten Voraussetzungen für einen Zeitraum, der im Allgemeinen sechs Monate nicht überschreitet, inhaftiert werden, um den ordnungsgemäßen Ablauf ihrer Abschiebung zu gewährleisten.
Herr Arslan, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde von der tschechischen Polizei wegen illegalen Aufenthalts festgenommen und inhaftiert. Am darauffolgenden Tag erließen die tschechischen Behörden eine Abschiebungsentscheidung gegen ihn und setzten einige Tage später mit einer zweiten Entscheidung die Dauer seiner Haft auf 60 Tage fest, was sie mit der Vermutung begründeten, dass Herr Arslan die Abschiebung vereiteln würde. In der zweiten Entscheidung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Betreffende unter Umgehung der Grenzkontrollen heimlich in den Schengen-Raum eingereist sei und sich ohne Reisedokument und Visum in Österreich und in der Tschechischen Republik aufgehalten habe. Ferner ging aus dieser Entscheidung hervor, dass Herr Arslan bereits 2009 im Besitz eines falschen Reisepasses im griechischen Hoheitsgebiet von der Polizei aufgegriffen, in der Folge in sein Herkunftsland zurückgeschickt und in das Schengener Informationssystem als Person aufgenommen worden war, der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Staaten des Schengen-Raums in der Zeit vom 26. Januar 2010 bis zum 26. Januar 2013 untersagt war. Am Tag des Erlasses dieser Entscheidung stellte Herr Arslan einen Asylantrag. Während dieser Antrag geprüft wurde, wurde die Haft um 120 Tage verlängert.
Herr Arslan ficht vor den tschechischen Gerichten die Rechtmäßigkeit dieser letzten Entscheidung über die Verlängerung seiner Haft an. In der Zwischenzeit ist er wegen Erreichens der Höchstdauer von sechs Monaten entlassen worden, und sein Asylantrag ist im Übrigen abgelehnt worden.
Der mit dem Rechtsstreit befasste Nejvyšší správní soud (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Tschechische Republik) stellt dem Gerichtshof die Frage, ob ein Asylbewerber zum Zweck der Abschiebung aus dem Gebiet der Union wegen illegalen Aufenthalts rechtmäßig in Haft behalten werden könne.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass ein Asylbewerber das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats zumindest bis zur erstinstanzlichen Ablehnung dieses Antrags aufzuhalten. Daher kann er während dieses Zeitraums nicht als in diesem Staat illegal aufhältig angesehen werden. Der Gerichtshof erläutert hierzu, dass die Mitgliedstaaten dieses Recht sogar ausweiten können, indem sie den Asylwerbern gestatten, sich bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung über ihren Antrag in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten.
Sodann führt der Gerichtshof aus, dass es derzeit Sache der Mitgliedstaaten ist, unter vollständiger Einhaltung ihrer Verpflichtungen sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus dem Unionsrecht die Gründe festzulegen, aus denen ein Asylbewerber inhaftiert oder in Haft gehalten werden kann. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass Herr Arslan im vorliegenden Fall mit der Begründung inhaftiert wurde, dass sein Verhalten Anlass zur Befürchtung gebe, dass er fliehen würde, und dass er seinen Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt zu haben scheine, den Vollzug der gegen ihn erlassenen Rückführungsentscheidung zu verzögern, wenn nicht gar zu gefährden. Solche Umstände können aber tatsächlich die Aufrechterhaltung der Haft auch nach Stellung eines Asylantrags rechtfertigen. Denn die Haft ist nicht die Folge der Stellung des Asylantrags, sondern der Umstände, die das individuelle Verhalten des Antragstellers vor und bei Stellung des Antrags kennzeichnen. Zudem ist diese Haft erforderlich, um zu verhindern, dass der Betreffende endgültig seiner Abschiebung aus dem Gebiet der Union entgeht, und somit erforderlich, um die praktische Wirksamkeit der Vorschriften über die Rückführung illegal aufhältiger Personen zu gewährleisten.
Schließlich stellt der Gerichtshof klar, dass der alleinige Umstand, dass gegen einen Asylbewerber im Zeitpunkt seiner Antragstellung eine Rückführungsentscheidung erlassen und er inhaftiert wird, nicht die Vermutung zulässt, dass er diesen Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt habe, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden. Ob die Stellung des Asylantrags eventuell missbräuchlich ist, muss demnach fallspezifisch geprüft werden. Die nationalen Behörden haben auch zu beurteilen, ob es objektiv erforderlich und verhältnismäßig ist, den Asylbewerber weiter in Haft zu behalten.
Erläuterungen
* Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 30.05.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online