18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.03.2014

Ausschluss von Ausbildungs­maßnahmen wegen Schwangerschaft oder Mutter­schafts­urlaub stellt Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darAutomatischer Ausschluss vom Berufs­aus­bil­dungs­kursen verstößt gegen das Unionsrecht

Der automatische Ausschluss einer Arbeitnehmerin von einem Ausbildungskurs wegen der Inanspruchnahme eines obligatorischen Mutter­schafts­urlaubs verstößt gegen das Unionsrecht. In einem solchen Fall kann eine Arbeitnehmerin nicht in gleicher Weise wie ihre Kollegen in den Genuss einer Verbesserung der Arbeits­be­din­gungen gelangen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im Jahr 2009 absolvierte Frau Napoli erfolgreich das Auswahl­ver­fahren für Vizekommissare der Justiz­voll­zugs­polizei und wurde am 5. Dezember 2011 zur Teilnahme am Ausbildungskurs zugelassen, der am 28. Dezember 2011 beginnen sollte. Nachdem Frau Napoli am 7. Dezember entbunden hatte, befand sie sich nach der nationalen Regelung für drei Monate bis zum 7. März 2012 im obligatorischen Mutter­schafts­urlaub. Mit Bescheid vom 4. Januar 2012, der gemäß der italienischen Regelung erging, teilte die Amministrazione penitenziaria Frau Napoli mit, dass sie nach Ablauf der ersten 30 Tage des Mutter­schafts­urlaubs von dem betreffenden Kurs ausgeschlossen und die Zahlung ihrer Bezüge ausgesetzt werde. Die italienische Verwaltung wies darauf hin, dass sie automatisch zum nächsten veranstalteten Kurs zugelassen werde.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung über möglichen Verstoß gegen EU-Recht durch nationale Regelung zum Ausschluss von Ausbil­dungs­kursen wegen eines Mutter­schaf­s­urlaubs

Das mit dem Rechtsstreit befasste Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwal­tungs­gericht Latium) fragt den Gerichtshof, ob die Richtlinie über die Gleich­be­handlung von Männern und Frauen* einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Frau wegen der Inanspruchnahme eines obligatorischen Mutter­schafts­urlaubs von einer Berufs­aus­bildung, die Teil ihres Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisses und vorgeschrieben ist, um endgültig auf eine Beamtenstelle ernannt werden und damit in den Genuss verbesserter Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen gelangen zu können, ausschließt, die ihr dabei aber das Recht garantiert, an der nächsten organisierten Ausbildung teilzunehmen, deren Zeitpunkt jedoch ungewiss ist.

EuGH verweist auf Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wegen ungünstigerer Behandlung

In seinem Urteil erinnert der Gerichtshof daran, dass nach dem Unionsrecht eine ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutter­schafts­urlaub eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Ferner hat eine Frau im Mutter­schafts­urlaub Anspruch darauf, an ihren früheren Arbeitsplatz oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz unter Bedingungen, die für sie nicht weniger günstig sind, zurückzukehren, und darauf, dass ihr auch alle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, auf die sie während ihrer Abwesenheit Anspruch gehabt hätte, zugutekommen.

Kursteilnahme würde Aufstieg in höheren Dienstgrad ermöglichen

Es steht fest, dass Frau Napoli in einem Arbeits­ver­hältnis beschäftigt ist und dass die Kurse, von denen sie aufgrund ihrer Abwesenheit wegen Mutter­schafts­urlaubs ausgeschlossen wurde, im Rahmen dieses Arbeits­ver­hält­nisses veranstaltet werden und dazu bestimmt sind, sie auf eine Prüfung vorzubereiten, die ihr, wenn sie sie besteht, den Aufstieg in einen höheren Dienstgrad ermöglichen würde.

Ausschluss vom Berufs­aus­bil­dungskurs hatte nachteiligen Einfluss auf Arbeits­be­din­gungen

Der Gerichtshof stellt zwar fest, dass der Mutter­schafts­urlaub die Stellung eines Vizekom­mis­sar­s­an­wärters von Frau Napoli nicht beeinflusst hat (was ihr die Aufnahme in den nächsten Kurs garantiert) und dass sie den Arbeitsplatz zurückerhalten hat, auf dem sie vor ihrem Mutter­schafts­urlaub beschäftigt worden war. Dennoch hatte der Ausschluss vom Berufs­aus­bil­dungskurs wegen der Inanspruchnahme des Mutter­schafts­urlaubs einen nachteiligen Einfluss auf die Arbeits­be­din­gungen von Frau Napoli: Ihre Kollegen konnten nämlich den ursprünglichen Kurs vollständig absolvieren und vor ihr in den höheren Dienstgrad eines Vizekommissars aufsteigen und die entsprechenden Dienstbezüge erhalten.

Automatischer Ausschluss von Kursteilnahm ist nicht mit Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit vereinbar

Der Gerichtshof stellt daher fest, dass der Ausschluss vom ersten Kurs und das anschließende Verbot, an der abschließenden Prüfung teilzunehmen, den Verlust einer Chance von Frau Napoli bewirken, in gleicher Weise wie ihre Kollegen in den Genuss einer Verbesserung der Arbeits­be­din­gungen zu kommen, und daher als eine ungünstige Behandlung betrachtet werden müssen. Dieser automatische Ausschluss, der weder berücksichtigt, in welchem Stadium des Kurses die Betroffene wegen Mutter­schafts­urlaub abwesend ist, noch welche Ausbildung sie bereits absolviert hat, und sich darauf beschränkt, der Arbeitnehmerin das Recht auf Teilnahme an einem Ausbildungskurs einzuräumen, der zu einem späteren, jedoch ungewissen Zeitpunkt stattfindet, ist nicht mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit vereinbar, zumal die zuständigen Behörden nicht verpflichtet sind, einen solchen Kurs zu bestimmten Zeitpunkten zu veranstalten.

Erfordernis vollständiger Ausbildung der Bewerber kann mit gleichwertigen Nachschu­lungs­kursen ausgeglichen werden

Zur Gewährleistung der wesentlichen Gleichheit zwischen Männern und Frauen verfügen die Mitgliedstaaten über einen gewissen Ermes­sens­spielraum: So können die zuständigen Behörden das Erfordernis der vollständigen Ausbildung der Bewerber mit den Rechten der Arbeitnehmerin in Einklang bringen, indem sie gegebenenfalls für die Arbeitnehmerin, die aus dem Mutter­schafts­urlaub zurückkehrt, parallele gleichwertige Nachschu­lungskurse vorsehen, damit sie rechtzeitig zur Prüfung zugelassen werden und so schnell wie möglich in einen höheren Dienstgrad aufsteigen kann. Auf diese Weise würde sich die berufliche Laufbahn einer solchen Arbeitnehmerin im Vergleich zu derjenigen eines männlichen Kollegen, der das Auswahl­ver­fahren bestanden hat und zum selben ursprünglichen Ausbildungskurs zugelassen wurde, nicht langsamer entwickeln.

Entge­gen­stehende nationale Bestimmung müssen unangewendet bleiben

Der Gerichtshof schließt mit der Feststellung, dass die Bestimmungen der Richtlinie hinreichend klar, genau und unbedingt sind, um unmittelbare Wirkung entfalten zu können. Daher ist das nationale Gericht, das sie anzuwenden hat, verpflichtet, deren volle Wirksamkeit dadurch zu gewährleisten, dass es erfor­der­li­chenfalls jede entge­gen­stehende nationale Bestimmung aus eigener Entschei­dungs­be­fugnis unangewendet lässt.

Erläuterungen
* Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancen­gleichheit und Gleich­be­handlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­fragen (ABl. L 204, S. 23).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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