21.11.2024
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Dokument-Nr. 19043

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil23.10.2014

Strom- und Gaskunden müssen rechtzeitig vor Inkrafttreten von Änderung über Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werdenDeutsche Regelungen zur Strom- und Gaspreis­er­höhung verstoßen gegen EU-Richtlinien

Verbraucher, die im Rahmen der allgemeinen Versor­gungs­pflicht mit Strom und Gas beliefert werden, müssen rechtzeitig vor Inkrafttreten jeder Preiserhöhung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden. Da die vorliegend in Rede stehende deutsche Regelung eine solche Information nicht vorsieht, verstößt sie gegen die „Stromrichtlinie“ 2003/54 und gegen die „Gasrichtlinie“ 2003/55. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Der Bundes­ge­richtshof (Deutschland) ist mit zwei Rechtss­trei­tig­keiten zwischen Strom- und Gaskunden und ihren Versorgern betreffend mehrere Preiserhöhungen in den Jahren 2005 bis 2008 befasst. Die Kunden, die unter die allgemeine Versor­gungs­pflicht fallen (Tarifkunden)*, sind der Ansicht, dass diese Erhöhungen unbillig gewesen seien und auf rechtswidrigen Klauseln beruht hätten.

Deutsche Regelung erlaubt einseitige Strom- und Gaspreis­er­höhung ohne Benach­rich­tigung der Kunden

Die allgemeinen Bedingungen der mit Verbrauchern geschlossenen Verträge waren durch die im maßgeblichen Zeitraum geltende deutsche Regelung** bestimmt und aufgrund dieser Regelung unmittelbarer Bestandteil der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge. Die Regelung erlaubte es den Versorgern, die Strom- und Gaspreise einseitig zu ändern, ohne den Anlass, die Voraussetzungen oder den Umfang der Änderung anzugeben, stellte jedoch sicher, dass die Kunden über die Preiserhöhung benachrichtigt wurden und den Vertrag gegebenenfalls kündigen konnten.

Nationale Regelung steht Strom- bzw. Gasrichtline entgegen

In Beantwortung der vom Bundes­ge­richtshof vorgelegten Fragen stellt der Gerichtshof mit seinem Urteil fest, dass die „Stromrichtlinie“ 2003/54*** und die „Gasrichtlinie“ 2003/55**** einer nationalen Regelung (wie der vorliegend in Rede stehenden deutschen Regelung) entgegenstehen, die den Inhalt von Strom- und Gaslie­fe­rungs­ver­trägen mit Verbrauchern, die unter die allgemeine Versor­gungs­pflicht fallen, bestimmt und für die Versorger die Möglichkeit vorsieht, den Tarif dieser Lieferungen zu ändern, ohne jedoch zu gewährleisten, dass die Verbraucher rechtzeitig vor Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 21.03.2013 - C-92/11 -).

Mitglieds­s­taaten müssen hohen Verbrau­cher­schutz gewährleisten

Der Gerichtshof führt insbesondere aus, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesen beiden Richtlinien in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertrags­be­din­gungen einen hohen Verbrau­cher­schutz gewährleisten müssen.

Kunden müssen die Möglichkeit haben, gegen Änderungen vorzugehen

Der Gerichtshof stellt fest, dass den Kunden neben ihrem (in den Richtlinien für den Fall einer Preisänderung vorgesehenen) Recht, sich vom Liefervertrag zu lösen, auch die Befugnis erteilt werden muss, gegen eine solche Änderung vorzugehen. Um diese Rechte in vollem Umfang und tatsächlich nutzen und in voller Sachkenntnis eine Entscheidung über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises treffen zu können, müssen die unter die allgemeine Versor­gungs­pflicht fallenden Kunden rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.

EuGH lehnt zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils ab

Den Antrag, die finanziellen Folgen des Urteils so weit wie möglich zu beschränken, weist der Gerichtshof zurück und lehnt damit eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen seines Urteils ab. Hierzu stellt der Gerichtshof insbesondere fest, dass nicht dargelegt wurde, dass die Infragestellung der Rechts­ver­hältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, rückwirkend die gesamte Branche der Strom- und Gasversorgung in Deutschland erschüttern würde. Die Auslegung der Richtlinien 2003/54 und 2003/55 gilt somit für alle im zeitlichen Anwen­dungs­bereich dieser Richtlinien erfolgten Änderungen*****.

Erläuterungen

In diesem Fall muss der Versorger im Rahmen der durch die nationalen Rechts­vor­schriften auferlegten Verpflichtungen zu den in diesen Rechts­vor­schriften vorgesehenen Bedingungen mit den Kunden, die darum ersuchen und die dazu berechtigt sind, Verträge schließen.

** Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) vom 21. Juni 1979 (BGBl. 1979 I, S. 676), Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektri­zi­täts­ver­sorgung von Tarifkunden (AVBEltV) vom 21. Juni 1979 (BGBl. 1979 I, S. 684) und Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatz­ver­sorgung mit Elektrizität aus dem Nieder­span­nungsnetz (Strom­grund­ver­sor­gungs­ver­ordnung – StromGVV) vom 26. Oktober 2006 (BGBl. 2006 I, S. 2391), die die vorgenannte Verordnung abgelöst hat.

*** Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektri­zi­täts­bin­nenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. L 176, S. 37, und – Berichtigung – ABl. 2004, L 16, S. 74). Die Richtlinie von 2003 ist durch die Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektri­zi­täts­bin­nenmarkt (ABl. L 211, S. 55) aufgehoben worden.

**** Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgas­bin­nenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57). Die Richtlinie von 2003 ist durch die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgas­bin­nenmarkt (ABl. L 211, S. 94) aufgehoben worden.

***** Die Richtlinien 2003/54 und 2003/55 sind am 4. August 2003 in Kraft getreten und mussten bis spätestens 1. Juli 2004 in nationales Recht umgesetzt werden. Sie wurden mit Wirkung zum 3. März 2011 aufgehoben (siehe oben, Fn. 3 und 4).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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