21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil04.10.2012

Luftfahrt­unternehmen muss Fluggästen bei Nicht­be­för­derung infolge von Umorga­ni­sa­tionen wegen Streiks Ausgleichs­leistungen zahlenNotwendigkeit der Umorganisation nach Streiks befreit Luftfahr­un­ter­nehmen nicht von Pflicht zur Zahlung von Ausgleichs­leistungen

Wurden Fluggäste nicht befördert, weil ihr Flug aufgrund eines zwei Tage zuvor auf dem Flughafen stattgefundenen Streiks umorganisiert wurde, ist das Luftfahrt­unternehmen dazu verpflichtet, den Fluggästen Ausgleichs­leistungen zu erbringen. Der Ausgleich ist nicht nur bei Nicht­be­för­derung wegen Überbuchung, sondern auch bei Nicht­be­för­derung aus anderen – z. B. betrieblichen – Gründen zu zahlen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Verordnung über Ausgleichs- und Unter­stüt­zungs­leis­tungen für Fluggäste* gewährt Fluggästen, deren Abgangs- oder Bestim­mungs­flughafen in einem Mitgliedstaat liegt, bestimmte Rechte. Eine „Nicht­be­för­derung“ liegt nach der Verordnung vor, wenn ein Luftfahrt­un­ter­nehmen Fluggästen die Beförderung verweigert, obwohl sie sich rechtzeitig mit einer bestätigten Buchung am Flugsteig eingefunden haben. Die Verordnung sieht allerdings Fälle vor, in denen das Luftfahrt­un­ter­nehmen zur Verweigerung der Beförderung berechtigt ist. Mit Ausnahme dieser Fälle haben Fluggäste Anspruch auf eine unverzügliche Ausgleichsleistung, auf Erstattung des Flugpreises oder anderweitige Beförderung zum Endziel sowie auf Betreu­ungs­leis­tungen, während sie auf den nächsten Flug warten.

Sachverhalt

Infolge eines Streiks des Personals des Flughafens Barcelona am 28. Juli 2006 musste der Linienflug der Gesellschaft Finnair um 11.40 Uhr von Barcelona nach Helsinki annulliert werden. Damit die Fluggäste dieses Flugs nicht zu lange warten mussten, beschloss Finnair, ihre nachfolgenden Flüge umzuor­ga­ni­sieren. Die betroffenen Fluggäste wurden daher am folgenden Tag (29. Juli 2006) mit dem Linienflug um 11.40 Uhr sowie mit einem eigens durchgeführten Flug um 21.40 Uhr nach Helsinki befördert. Ein Teil der Fluggäste, die den Flug am 29. Juli 2006 um 11.40 Uhr gebucht hatten, musste wegen dieser Umorganisation bis zum 30. Juli 2006 warten, um mit dem Linienflug um 11.40 Uhr oder einem wegen dieses Umstands eigens durchgeführten Flugs um 21.40 Uhr nach Helsinki zu gelangen. Ebenso erreichten einige Fluggäste wie Herr Lassooy, die den Flug am 30. Juli 2006 um 11.40 Uhr gebucht hatten und sich ordnungsgemäß am Flugsteig eingefunden hatten, Helsinki erst mit dem außer­plan­mäßigen Flug, der um 21.40 Uhr startete. Die letztgenannten Fluggäste enthielten von Finnair keine Ausgleichs­leistung.

Kläger verlangt Ausgleichs­zahlung wegen Nicht­be­för­derung

Da Herr Lassooy der Ansicht war, dass Finnair ihm die Beförderung ohne triftigen Grund verweigert habe, verklagte er sie vor den finnischen Gerichten auf Leistung der Ausgleichs­zahlung in Höhe von 400 Euro, die in der Verordnung bei inner­ge­mein­schaft­lichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 Kilometern vorgesehen ist.

Nationales Gericht erbittet Auslegung des Begriffs "Nicht­be­för­derung" durch EuGH

In diesem Zusammenhang ersucht der in letzter Instanz angerufene Korkein oikeus (oberster Gerichtshof, Finnland) den Gerichtshof um Auslegung des Begriffs "Nicht­be­för­derung" sowie um Beantwortung der Frage, ob sich ein Luftfahrt­un­ter­nehmen auf außer­ge­wöhnliche Umstände berufen kann, um Fluggästen die Beförderung auf Flügen zu verweigern, die auf den wegen dieser Umstände annullierten Flug folgen, oder sich von seiner Verpflichtung zu befreien, den von dieser Weigerung betroffenen Fluggästen einen Ausgleich zu zahlen.

Auch betriebliche Gründen sind Teil der Nicht­be­för­derung

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass sich der Begriff "Nicht­be­för­derung" nicht nur auf Fälle der Nichtbeförderung wegen Überbuchung bezieht, sondern auch auf Fälle der Nicht­be­för­derung aus anderen – z. B. betrieblichen – Gründen.

Verordnung soll hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherstellen

Diese Auslegung ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Verordnung, sondern auch aus dem mit ihr verfolgten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Der Unions­ge­setzgeber hat nämlich in dem Bestreben, die seinerzeit zu hohe Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste zu verringern, 2004 eine neue Regelung eingeführt, mit der die Bedeutung des Begriffs der Nicht­be­för­derung erweitert wurde, so dass sämtliche Fälle erfasst sind, in denen ein Luftfahrt­un­ter­nehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert. Eine Beschränkung des Begriffs „Nicht­be­för­derung“ allein auf Fälle der Überbuchung würde in der Praxis zu einer deutlichen Einschränkung des den Fluggästen gewährten Schutzes führen, da sie auch dann völlig schutzlos gestellt wären, wenn sie sich in einer mit der Überbuchung vergleichbaren Situation befinden, für die sie nicht verantwortlich sind – was dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde.

Streiks befreien Luftfahrt­un­ter­nehmen nicht von Verpflichtung, Ausgleichs­leis­tungen zu erbringen

Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Eintreten außer­ge­wöhn­licher Umstände – wie eines Streiks –, die ein Luftfahrt­un­ter­nehmen veranlassen, spätere Flüge umzuor­ga­ni­sieren, weder eine Nicht­be­för­derung rechtfertigt noch das Unternehmen von seiner Verpflichtung befreit, Fluggästen, denen die Beförderung auf einem der späteren Flüge verweigert wurde, Ausgleichs­leis­tungen zu erbringen.

Nicht­be­för­derung nur in Ausnahmen zulässig

Die Verordnung sieht Fälle vor, in denen eine Nicht­be­för­derung gerechtfertigt ist, z. B. aus Gründen der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder wegen unzureichender Reiseunterlagen. Nach Ansicht des Gerichtshofs kann jedoch eine Nicht­be­för­derung wie die im vorliegenden Fall nicht mit diesen Gründen gleichgesetzt werden, weil der Grund für die Verweigerung der Beförderung nicht dem Fluggast zuzurechnen ist.

Neuvergabe von Sitzplätzen zur Beförderung von Fluggästen in angemessener Zeit befreit Unternehmen nicht von Zahlung von Ausgleichs­leis­tungen

Hingegen ist der vorliegende Fall damit vergleichbar, dass die Beförderung wegen einer "anfänglichen" Überbuchung, die das Luftfahrt­un­ter­nehmen aus wirtschaft­lichen Gründen verursacht hat, verweigert wird, da das Luftfahrt­un­ter­nehmen den Platz von Herrn Lassooy neu vergeben hat, um andere Fluggäste zu befördern, und hierbei selbst die Wahl zwischen verschiedenen zu befördernden Fluggästen getroffen hat. Auch wenn diese Neuvergabe vorgenommen wurde, damit die Fluggäste, die für die wegen des Streiks annullierten Flüge vorgesehen waren, nicht zu lange warten mussten, kann sich Finnair nicht auf das Interesse anderer Fluggäste an einer Beförderung in angemessener Zeit berufen, um den Kreis der Fälle, in denen sie berechtigt wäre, einem Fluggast die Beförderung zu verweigern, erheblich zu erweitern. Eine solche Erweiterung hätte zwangsläufig zur Folge, dass die Fluggäste späterer Flüge völlig schutzlos gestellt wären, was dem Ziel der Verordnung zuwiderlaufen würde.

Gründe für Nicht­be­för­derung wegen außer­ge­wöhn­licher Umstände dürfen sich nur auf einzelnes Flugzeug an bestimmtem Tag beziehen

Nach der Verordnung ist ein Luftfahrt­un­ter­nehmen nicht zur Leistung der Ausgleichs­zahlung verpflichtet, wenn ein Flug im Zusammenhang mit „außer­ge­wöhn­lichen Umständen“ annulliert wird, d. h. wegen Umständen, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dies ist bei Fluggästen der Fall, denen die Beförderung am Tag des Streiks verweigert wurde. Der Unions­ge­setzgeber hat hingegen nicht vorgesehen, dass die Ausgleichs­zahlung, die Fluggästen zusteht, denen die Beförderung verweigert wurde, aus Gründen ausgeschlossen werden kann, die mit dem Eintreten "außer­ge­wöhn­licher Umstände" zusammenhängen. Wie der Gerichtshof betont, dürfen sich nämlich die außer­ge­wöhn­lichen Umstände nur auf ein einzelnes Flugzeug an einem bestimmten Tag beziehen, was nicht der Fall ist, wenn die Beförderung verweigert wird, weil Flüge infolge außer­ge­wöhn­licher Umstände, die einen vorhergehenden Flug betrafen, umorganisiert werden.

Luftfahrt­un­ter­nehmen darf Verursacher der Nicht­be­för­derung in Regress nehmen

Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass die Luftfahrt­un­ter­nehmen dadurch nicht gehindert sind, bei anderen Personen, auch Dritten, die die Nicht­be­för­derung verursacht haben, Regress zu nehmen. Ein solcher Regress kann die finanzielle Belastung der Luftfahrt­un­ter­nehmen mildern oder sogar beseitigen.

Erläuterungen

* Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unter­stüt­zungs­leis­tungen für Fluggäste im Fall der Nicht­be­för­derung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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