21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil13.10.2011

Flug-Annullierung: Neben Ausgleich für materielle Schäden kann auch eine Entschädigung für "immaterielle Schäden" verlangt werdenGerichtshof der Europäischen Union weitet Schadenersatz bei Flugausfällen aus

Im Fall der Annullierung eines Flugs können die Fluggäste unter bestimmten Voraussetzungen neben der ihnen gewährten Ausgleichs­leistung für den materiellen Schaden auch eine Entschädigung für den immateriellen Schaden verlangen. Außerdem kann ein Fluggast die Entschädigung für die Annullierung eines Flugs in Anspruch nehmen, wenn sein Flugzeug gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangs­flughafen zurückkehren musste, und dieser Fluggast auf einen anderen Flug umgebucht wurde. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschieden.

Die Verordnung über Ausgleichs­leis­tungen für Fluggäste* schreibt standardisierte Maßnahmen vor, die die Flugge­sell­schaften gegenüber ihren Fluggästen im Fall der Nicht­be­för­derung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen ergreifen müssen. Die Verordnung gilt aber unbeschadet eines weiter gehenden Schaden­s­er­satz­an­spruchs des Fluggastes. Daher kann die nach der Verordnung gewährte Ausgleichs­leistung auf einen etwaigen weiter gehenden Schaden­s­er­satz­an­spruch der Fluggäste angerechnet werden.

Zu den in der Verordnung vorgesehenen standa­r­di­sierten Maßnahmen im Fall der Annullierung eines Flugs gehören die Erstattung der Flugschein­kosten und die anderweitige Beförderung der Fluggäste. Außerdem muss ihnen die Flugge­sell­schaft während der Wartezeit auf einen späteren Flug angemessene Betreu­ungs­leis­tungen anbieten (z. B. eine Unterbringung sowie die Möglichkeit, Mahlzeiten einzunehmen und Telefon­ge­spräche zu führen). Schließlich haben die Fluggäste im Fall der Annullierung des Flugs ohne oder mit einer sehr kurzen Vorankündigung auch Anspruch auf eine entfer­nungs­ab­hängige pauschale Ausgleichs­zahlung, sofern keine außer­ge­wöhn­lichen Umstände vorliegen.

Parallel dazu werden im Übereinkommen von Montreal** die Voraussetzungen festgelegt, unter denen die Fluggäste wegen der Annullierung eines Flugs als indivi­du­a­li­sierte Wieder­gut­machung Ansprüche auf Schadensersatz gegen die Luftfahrt­un­ter­nehmen geltend machen können. Insbesondere haftet das Luftfahrt­un­ter­nehmen nach diesem Übereinkommen im Fall einer Annullierung nur bis zu einem Betrag von 4 150 Sonder­zie­hungs­rechten je Reisenden***.

Zwei spanische Familien wollten von Paris nach Vigo fliegen - Flugzeug hob ab, kehrte aber wieder um

Die Familien Pato Rodríguez und López Sousa sowie Herr Rodrigo Manuel Puga Lueiro hatten für den 25. September 2008 einen Flug mit Air France von Paris (Frankreich) nach Vigo (Spanien) gebucht. Das Flugzeug startete planmäßig, musste aber kurz darauf wegen eines technischen Problems zum Flughafen Charles de Gaulle zurück­keh­ren****. Diese sieben Fluggäste wurden auf andere Flüge am folgenden Tag umgebucht, aber nur Herrn Puga Lueiro wurde während der Wartezeit eine Unter­stüt­zungs­leistung von der Flugge­sell­schaft angeboten. Die Familie Pato Rodríguez wurde über Porto (Portugal) anderweitig befördert und musste von dort ein Taxi nach Vigo, ihrem Wohnort, nehmen.

Die sieben Fluggäste erhoben Klage auf Zahlung von jeweils 250 Euro als Ausgleichs­zahlung für die Annullierung des Flugs. Ferner verlangt die Familie Pato Rodríguez 170 Euro, um die Kosten der Taxifahrt zu decken, und 650 Euro pro Person zum Ersatz des immateriellen Schadens. Die Familie López Sousa verlangt ebenfalls jeweils 650 Euro zum Ersatz des immateriellen Schadens sowie die Erstattung von Auslagen für am Flughafen eingenommenes Essen und für einen zusätzlichen Tag Hundepension für ihren Hund. Herr Puga Lueiro begehrt 300 Euro zum Ersatz des ihm entstandenen immateriellen Schadens.

Spanisches Gericht stellt die Frage, ob ein gestartetes und zurückgekehrtes Flugzeug als annulliertes Flugzeug anzusehen ist

Der mit der Rechtssache befasste Juzgado de lo Mercantil nº 1 de Pontevedra (Handelsgericht in Pontevedra, Spanien) fragt den Gerichtshof, ob der vorliegende Sachverhalt als „Annullierung“ eines Flugs anzusehen ist. Zudem möchte das spanische Gericht wissen, ob der „weiter gehende Schadensersatz“, den die Fluggäste geltend machen können, jede Art von Schaden, einschließlich immaterieller Schäden, umfasst und ob dieser Schadensersatz auch die Kosten beinhaltet, die den Fluggästen entstanden sind, weil das Luftfahrt­un­ter­nehmen seiner Pflicht, Unterstützung und Betreuung zu leisten, nicht nachgekommen ist.

EuGH erläutert Begriff der "Annullierung"

In seinem Urteil erläutert der Gerichtshof erstens seine Auslegung des Begriffs „Annullierung“ dahin, dass er nicht ausschließlich den Fall betrifft, dass das betreffende Flugzeug überhaupt nicht startet. Der Begriff umfasst auch den Fall, dass ein Flugzeug gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangs­flughafen zurückkehren musste, und die Fluggäste auf andere Flüge umgebucht wurden.

Ist der Abflug erfolgt, das Flugzeug aber danach zum Ausgangs­flughafen zurückgekehrt, ohne den nach der Flugroute vorgesehenen Bestimmungsort erreicht zu haben, so hat dies zur Folge, dass der Flug in seiner ursprünglich vorgesehenen Form nicht als durchgeführt betrachtet werden kann.

EuGH: Individuelle Situation des beförderten Fluggasts ausschlaggebend

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass bei der Prüfung, ob eine „Annullierung“ vorliegt, auf die individuelle Situation jedes beförderten Fluggasts abzustellen ist, d. h., es ist zu prüfen, ob in Bezug auf den betreffenden Fluggast die ursprüngliche Planung des Flugs aufgegeben wurde. Dabei liegt eine Annullierung des Flugs nicht nur dann vor, wenn alle Fluggäste, die den ursprünglich geplanten Flug gebucht hatten, mit einem anderen Flug befördert wurden.

Aus der Tatsache, dass die sieben Fluggäste im vorliegenden Fall ihr Endziel (Vigo) nach Umbuchung auf andere, für den Folgetag des vorgesehenen Abflugtags geplante Flüge erreichten, folgert der Gerichtshof, dass „ihr“ jeweiliger ursprünglich geplanter Flug als „annulliert“ einzustufen ist.

"weiter gehender Schadensersatz"

Zweitens stellt der Gerichtshof klar, dass der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ es dem nationalen Gericht ermöglicht, Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbe­för­de­rungs­vertrags entstandenen immateriellen Schaden zu gewähren, und zwar unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts.

Der „weiter gehende Schadensersatz“ soll die Durchführung der in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen standa­r­di­sierten und sofortigen Maßnahmen ergänzen. Demnach kann den Fluggästen aufgrund dieses „weiter gehenden Schaden­s­er­satzes“ der gesamte materielle und immaterielle Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrt­un­ter­nehmens entstanden ist, ersetzt werden, und zwar unter den Voraussetzungen und Grenzen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts. Drittens fügt der Gerichtshof hinzu, dass die Fluggäste, wenn ein Luftfahrt­un­ter­nehmen die ihm nach der Verordnung obliegenden Unter­stüt­zungs­pflichten (Erstattung der Flugschein­kosten oder anderweitige Beförderung zum Endziel, Tragung der Kosten für die Beförderung des Fluggasts von einem anderen Flughafen zu dem ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen) und Betreu­ungs­pflichten (Verpflegungs-, Unterbringungs- und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­kosten) verletzt, berechtigt sind, einen Ausgleichs­an­spruch geltend zu machen. Diese Ansprüche können jedoch, da sie sich unmittelbar aus der Verordnung ergeben, nicht als „weiter gehender“ Schadensersatz angesehen werden.

Erläuterungen

* Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unter­stüt­zungs­leis­tungen für Fluggäste im Fall der Nicht­be­för­derung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).

** Am 28. Mai 1999 in Montreal abgeschlossenes Übereinkommen zur Verein­heit­lichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und in ihrem Namen mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. L 194, S. 39) genehmigt wurde. Dieses Übereinkommen wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrt­un­ter­nehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. L 140, S. 2) geänderten Fassung umgesetzt.

*** Die Sonder­zie­hungs­rechte im Übereinkommen von Montreal beziehen sich auf das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) festgelegte Sonder­zie­hungsrecht. Diese Beträge sind somit in Landeswährung umzurechnen. Am 15. September 2011 entsprachen 4 150 Sonder­zie­hungs­rechte einem Betrag von ca. 4 750 Euro.

**** Der Vorla­ge­be­schluss des spanischen Gerichts enthält keine Angaben dazu, ob das Flugzeug danach mit einigen Fluggästen wieder gestartet und mit Verspätung am Ziel angekommen ist oder ob es nicht wieder abgeflogen ist.

Quelle: ra-online, Gerichtshof der Europäischen Union (pm/pt)

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