21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil21.12.2016

EuGH zur Zulässigkeit der Untersagung von Massen­ent­las­sungenGesetzliche Kriterien zur Untersagung geplanter Massen­ent­lassung dürfen nicht allgemein und ungenau gefasst sein

Das Unionsrecht hindert einen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran, unter bestimmten Umständen im Interesse des Schutzes der Arbeitnehmer und der Beschäftigung Massen­ent­las­sungen zu untersagen. Im Rahmen einer solchen nationalen Regelung, die jedoch darauf ausgerichtet sein muss, einerseits den Schutz der Arbeitnehmer und der Beschäftigung und andererseits die Niederlassungs­freiheit und die unter­neh­me­rische Freiheit der Arbeitgeber miteinander zu vereinbaren und ein gerechtes Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen, dürfen die gesetzlichen Kriterien, die die zuständige Behörde anwenden muss, um eine geplante Massen­ent­lassung untersagen zu können, u.a. nicht allgemein und ungenau gefasst sein. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im zugrunde liegenden Verfahrens wandte sich das griechische Unternehmen AGET Iraklis, das Zement herstellt und dessen Hauptaktionär die multinationale französische Lafarge-Gruppe ist, wendet sich gegen die Entscheidung des Arbeits­mi­nis­teriums, die von AGET Iraklis geplante Massen­ent­lassung (die die Schließung einer Fabrik in Chalkida auf Euböa und die Streichung von 236 Stellen vorsah) nicht zu genehmigen. Wird über eine beabsichtigte Massen­ent­lassung keine Einigung zwischen den Parteien erzielt, kann in Griechenland der Präfekt oder der Arbeitsminister nach Abwägung dreier Kriterien (nämlich der Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, der wirtschaft­lichen Verhältnisse des Unternehmens und der Belange der nationalen Wirtschaft) die Genehmigung aller oder eines Teils der vorgesehenen Entlassungen versagen. Werden die geplanten Entlassungen nicht genehmigt, können sie nicht vorgenommen werden.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH über Vereinbarkeit der nationalen Verwal­tungs­ge­neh­migung mit EU-Richtlinie

Der mit dieser Sache befasste Symvoulio tis Epikrateias (griechischer Staatsrat) möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine solche vorherige Verwal­tungs­ge­neh­migung mit der Richtlinie über Massen­ent­las­sungen* und der durch die Unionsverträge gewährleisteten Niederlassungsfreiheit (der Freiheit, die die multinationale französische Lafarge-Gruppeüber die im vorliegenden Fall an der griechischen Gesellschaft AGET Iraklis gehaltenen Mehrheits­be­tei­li­gungen ausübt) vereinbar ist. Sollte dies zu verneinen sein, möchte der griechische Staatsrat wissen, ob die griechische Regelung dennoch angesichts der Tatsache als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen werden kann, dass Griechenland an einer schweren Wirtschaftskrise leidet und mit einer äußerst hohen Arbeits­lo­senquote zu kämpfen hat.

Nationale Regelung darf EU-Richtlinie nicht praktische Wirksamkeit nehmen

In seinem Urteil prüft der Gerichtshof zunächst die Vereinbarkeit des griechischen Gesetzes mit der Richtlinie. Er ist insoweit der Auffassung, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung, die einer Behörde die Befugnis verleiht, Massenentlassungen durch mit Gründen versehene Entscheidung, die nach einer Prüfung der Akten und der Berück­sich­tigung im Voraus festgelegter sachlicher Kriterien ergeht, zu verhindern, grundsätzlich nicht entgegensteht, sofern eine solche Regelung der Richtlinie nicht ihre praktische Wirksamkeit nimmt. Der Richtlinie könnte u.a. ihre praktische Wirksamkeit genommen werden, wenn unter Berück­sich­tigung der von der nationalen Behörde angewandten Kriterien für den Arbeitgeberjede tatsächliche Möglichkeit ausgeschlossen wäre, Massen­ent­las­sungen in der Praxis vorzunehmen.

Im vorliegenden Fall weist AGET Iraklis darauf hin, dass die griechischen Behörden die ihnen angezeigten beabsichtigten Massen­ent­las­sungen systematisch untersagt hätten. Es ist daher Sache des in dem Rechtsstreit angerufenen griechischen Staatsrats, zu prüfen, ob der Richtlinie aufgrund der von den griechischen Behörden angewandten Beurtei­lungs­kri­terien ihre praktische Wirksamkeit genommen wird, weil die Arbeitgeber tatsächlich keine Möglichkeit haben, Massen­ent­las­sungen vorzunehmen.

Nationale Regelung kann ernsthaftes Hindernis für Ausübung der Nieder­las­sungs­freiheit in Griechenland darstellen

Der Gerichtshof prüft sodann die Vereinbarkeit des griechischen Gesetzes mit der Nieder­las­sungs­freiheit. Er ist insoweit der Auffassung, dass die griechische Regelung geeignet ist, ein ernsthaftes Hindernis für die Ausübung der Nieder­las­sungs­freiheit in Griechenland darzustellen. Die Regelung kann nämlich einen Zugang zum griechischen Markt weniger attraktiv machen und Wirtschafts­teil­nehmer anderer Mitgliedstaaten, die ihre Tätigkeit anpassen oder aufgeben wollen, in ihren Möglichkeiten, sich gegebenenfalls von den zuvor eingestellten Arbeitnehmern zu trennen, erheblich beschränken oder diese Möglichkeiten sogar ausschließen. Der Gerichtshof nimmt daher eine Beschränkung der Nieder­las­sungs­freiheit an.

Beschränkung kann durch zwingende Gründe des Allge­mein­in­teresses gerechtfertigt sein

Er weist darauf hin, dass eine solche Beschränkung durch zwingende Gründe des Allge­mein­in­teresses wie den Schutz der Arbeitnehmer oder die Förderung von Beschäftigung und Einstellungen gerechtfertigt sein kann. Insoweit stellt er fest, dass der bloße Umstand, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass eine beabsichtigte Massen­ent­lassung vor ihrer Vornahme einer nationalen Behörde anzuzeigen ist, die mit einer Kontroll­be­fugnis ausgestattet ist, die es ihr ermöglicht, unter bestimmten Umständen ein solches Vorhaben aus Gründen zu untersagen, die auf dem Schutz der Arbeitnehmer und der Beschäftigung beruhen, weder als Verstoß gegen die Nieder­las­sungs­freiheit noch als Verstoß gegen die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte unter­neh­me­rische Freiheit angesehen werden kann. Eine solche Regelung führt nämlich nicht dazu, dass sie ihrem Wesen nach jede Möglichkeit, Massen­ent­las­sungen vorzunehmen, ausschließt, sondern soll nur einen Rechtsrahmen für diese Möglichkeit schaffen, so dass ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den mit dem Schutz der Arbeitnehmer und der Beschäftigung verbundenen Interessen (u.a. Schutz gegen ungerecht­fertigte Entlassungen) und den Interessen im Zusammenhang mit der Nieder­las­sungs­freiheit hergestellt wird. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass eine solche Regelung geeignet ist, das Erfordernis der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu beachten, und außerdem nicht den Wesensgehalt der unter­neh­me­rischen Freiheit beeinträchtigt.

Kriterien teilweise zu allgemein und ungenau

Der Gerichtshof prüft sodann die drei Kriterien, anhand deren die griechischen Behörden beabsichtigte Massen­ent­las­sungen zu prüfen haben. Er ist der Ansicht, dass das erste Kriterium (Belange der nationalen Wirtschaft) unzulässig ist, da Ziele wirtschaft­licher Art keinen Grund von allgemeinem Interesse, der eine Beschränkung einer Freiheit wie der Nieder­las­sungs­freiheit rechtfertigen könnte, darstellen können. Was dagegen die beiden anderen Beurtei­lungs­kri­terien betrifft (die wirtschaft­lichen Verhältnisse des Unternehmens und die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt), so scheinen diese auf den ersten Blick mit den berechtigten Zielen des Allge­mein­in­teresses verknüpft werden zu können, die der Schutz der Arbeitnehmer und der Beschäftigung darstellen.

Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass diese beiden Kriterien sehr allgemein und ungenau gefasst sind. Daher wissen die betroffenen Arbeitgeber nicht, unter welchen besonderen und objektiven Umständen die griechischen Behörden beabsichtigte Massen­ent­las­sungen untersagen können: Die Fallge­stal­tungen sind potenziell zahlreich, unbestimmt und unbestimmbar, und die Kriterien belassen den griechischen Behörden einen weiten Beurtei­lungs­spielraum, der schwer zu kontrollieren ist. Solche ungenauen Kriterien, die nicht auf objektiven und nachprüfbaren Voraussetzungen beruhen, gehen über das hinaus, was zur Erreichung der angegebenen Ziele erforderlich ist, und können daher nicht den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes genügen.

Wirtschaftskrise oder hohe Arbeits­lo­senquote als besondere Rahmen­be­din­gungen nicht relevant

Zur Beantwortung der zweiten Frage des griechischen Staats­rats­erklärt der Gerichtshof, dass es auf die zuvor gefundene Lösung keinen Einfluss haben kann, sollten einem Mitgliedstaat Rahmen­be­din­gungen vorliegen, die durch eine schwere Wirtschaftskrise und eine besonders hohe Arbeits­lo­senquote gekennzeichnet sind. Weder die Richtlinie noch der AEU-Vertrag sehen nämlich eine Ausnahme für den Fall vor, dass solche nationalen Rahmen­be­din­gungen vorliegen.

Erläuterungen

* Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten über Massen­ent­las­sungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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