18.10.2024
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Dokument-Nr. 25792

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil17.04.2018

Flugge­sell­schaften sind auch bei "wilden Streiks" des Flugpersonals zu Ausgleichs­zah­lungen verpflichtetStreik des Personals als Folge überraschender Ankündigungen von Umstruk­tu­rierungs­maßnahmen stellt keinen "außer­ge­wöhn­lichen Umstand" dar

Ein "wilder Streik" des Flugpersonals, der auf die überraschende Ankündigung einer Umstruk­tu­rierung folgt, stellt keinen "außer­ge­wöhn­lichen Umstand" dar, der es der Flugge­sell­schaft erlaubt, sich von ihrer Verpflichtung zur Leistung von Ausgleichs­zah­lungen bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen zu befreien. Die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, sind Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Flugge­sell­schaft. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Am 30. September 2016 kündigte das Management der deutschen Flugge­sell­schaft TUIfly der Belegschaft überraschend Pläne zur Umstruk­tu­rierung des Unternehmens an. Diese Ankündigung führte dazu, dass sich das Flugpersonal nach einem von den Arbeitnehmern selbst verbreiteten Aufruf während etwa einer Woche krank meldete. Zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 2016 stieg die Quote krank­heits­be­dingter Abwesenheiten, die normalerweise bei etwa 10 % lag, auf bis zu 89 % des Cockpit-Personals und bis zu 62 % des Kabinen­per­sonals an. Am Abend des 7. Oktober 2016 teilte das Management von TUIfly der Belegschaft mit, dass eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt worden sei.

Flugge­sell­schaft beruft sich auf "außer­ge­wöhnliche Umstände"

Wegen dieses "wilden Streiks" wurden zahlreiche Flüge von TUIfly annulliert oder hatten eine Ankunfts­ver­spätung von drei Stunden oder mehr. Da TUIfly der Ansicht war, dass es sich um "außer­ge­wöhnliche Umstände" im Sinne der Unions­ver­ordnung über Fluggastrechte* gehandelt habe, weigerte sie sich jedoch, den betroffenen Fluggästen die darin vorgesehenen Ausgleichs­zah­lungen (je nach Entfernung 250 Euro, 400 Euro oder 600 Euro) zu leisten. Das Amtsgericht Hannover (Deutschland) und das Amtsgericht Düsseldorf (Deutschland), bei denen Klagen auf Leistung dieser Ausgleichs­zah­lungen anhängig sind, fragen den Gerichtshof, ob die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines "wilden Streiks", wie er hier in Rede steht, unter den Begriff "außer­ge­wöhnliche Umstände" fällt, so dass die Flugge­sell­schaft von ihrer Ausgleichs­ver­pflichtung befreit sein könnte.

Spontane Abwesenheit des Flugpersonals aufgrund überraschender Umstruk­tu­rie­rungspläne des Arbeitgebers ist kein "außer­ge­wöhn­licher Umstand"

Mit seinem Urteil verneint der Gerichtshof diese Frage: Die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals (in Gestalt eines "wilden Streiks", wie er hier in Rede steht) fällt nicht unter den Begriff "außer­ge­wöhnliche Umstände", wenn sie auf die überraschende Ankündigung von Umstruk­tu­rie­rungs­plänen durch ein ausführendes Luftfahrt­un­ter­nehmen zurückgeht und einem Aufruf folgt, der nicht von den Arbeit­neh­mer­ver­tretern des Unternehmens verbreitet wird, sondern spontan von den Arbeitnehmern selbst, die sich krank meldeten.

Bedingungen für Vorliegen "außer­ge­wöhn­licher Umstände"

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verordnung zwei kumulative Bedingungen für die Einstufung eines Vorkommnisses als "außer­ge­wöhn­licher Umstand" vorsieht, und zwar, dass dieses Vorkommnis (1) seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Flugge­sell­schaft ist und (2) von dieser nicht tatsächlich beherrschbar ist. Dass es in einem Erwägungsgrund der Verordnung heißt, dass solche Umstände insbesondere bei Streiks eintreten können, bedeutet noch nicht, dass ein Streik unbedingt und automatisch einen Grund die Befreiung von der Ausgleichs­pflicht darstellt. Vielmehr ist von Fall zu Fall zu beurteilen, ob die beiden oben genannten Bedingungen erfüllt sind.

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind.

Risiken durch Umstruk­tu­rie­rungen sind Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit einer Flugge­sell­schaft

Erstens gehören Umstruk­tu­rie­rungen und betriebliche Umorga­ni­sa­tionen zu den normalen betrie­bs­wirt­schaft­lichen Maßnahmen von Unternehmen. Somit ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Flugge­sell­schaften bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Meinungs­ver­schie­den­heiten oder Konflikten mit ihren Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen können. Daher sind in einer Situation wie der, zu der es Ende September/Anfang Oktober 2016 bei TUIfly kam, die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betreffenden Flugge­sell­schaft zu betrachten.

"Wilder Streik" war von TUIfly beherrschbar

Zweitens kann nicht angenommen werden, dass der hier in Rede stehende "wilde Streik" von TUIfly nicht tatsächlich beherrschbar war. Abgesehen davon, dass er auf eine Entscheidung von TUIfly zurückzuführen ist, endete er trotz der hohen Abwesen­heitsquote nach einer Einigung zwischen TUIfly und dem Betriebsrat vom 7. Oktober 2016.

Auslegung des Begriffs "außer­ge­wöhnliche Umstände aufgrund der nicht von der Gewerkschaft initiierten Vorgehensweise der Belegschaft nicht relevant

Der Gerichtshof weist zudem darauf hin, dass der Umstand, dass diese Vorgehensweise der Belegschaft, weil sie nicht offiziell von einer Gewerkschaft initiiert wurde, als "wilder Streik" im Sinne des einschlägigen deutschen Arbeits- und Tarifrechts einzustufen sein dürfte, für die Auslegung des Begriffs "außer­ge­wöhnliche Umstände" keine Rolle spielt. Würde nämlich zur Klärung der Frage, ob Streiks als "außer­ge­wöhnliche Umstände" im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte einzustufen sind, darauf abgestellt, ob sie nach dem einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig sind oder nicht, hätte dies zur Folge, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarif­recht­lichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge; dadurch würden die Ziele dieser Verordnung beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäft­s­tä­tigkeit von Luftfahrt­un­ter­nehmen in der Union sicherzustellen.

Erläuterungen
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unter­stüt­zungs­leis­tungen für Fluggäste im Fall der Nicht­be­för­derung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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