21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil14.11.2017

Nicht-EU-Staats­an­ge­höriger kann sich für eigenes Aufent­haltsrecht auf Unionsrecht des eingebürgerten Ehepartners berufenVoraussetzungen für Gewährung von Aufent­halts­rechten dürfen nicht strenger sein als in Richtlinie über Freizügigkeit von Unionsbürger vorgesehen

Ein Nicht-EU-Staats­an­ge­höriger, der Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers ist, kann ein Aufent­haltsrecht in dem Mitgliedstaat besitzen, in dem sich dieser Unionsbürger aufgehalten hat, bevor er dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit zusätzlich zu seiner ursprünglichen Staats­an­ge­hö­rigkeit erworben hat. Die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Aufent­halts­rechts dürfen nicht strenger sein als diejenigen, die in der Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger vorgesehen sind. Dies geht aus einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Herr Toufik Lounes, ein algerischer Staats­an­ge­höriger, reiste 2010 mit einem auf sechs Monate befristeten Besuchervisum in das Vereinigte Königreich ein. Nach Ablauf dieser sechs Monate hielt er sich rechtswidrig weiterhin im britischen Hoheitsgebiet auf. Frau Ormazabal, eine spanische Staats­an­ge­hörige, begab sich 1996 als Studentin in das Vereinigte Königreich. Sie arbeitet dort seit 2004 in Vollzeit und lebt dort. Im Jahr 2009 erwarb sie zusätzlich zu ihrer spanischen Staats­an­ge­hö­rigkeit durch Einbürgerung auch die britische Staats­bür­ger­schaft.

Britischer Innenminister lehnt Antrag auf Aufent­haltskarte ab

Im Jahr 2014 heirateten Herr Lounes und Frau Ormazabal. Nach ihrer Eheschließung beantragte Herr Lounes eine Aufent­haltskarte für das Vereinigte Königreich als Familien­an­ge­höriger einer Staats­an­ge­hörigen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Mit Schreiben vom 22. Mai 2014 teilte der britische Innenminister Herrn Lounes mit, dass sein Antrag abgelehnt sei. Denn nach den britischen Rechts­vor­schriften, mit denen die Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger* umgesetzt worden sei, gelte Frau Ormazabal, seit sie die britische Staats­bür­ger­schaft erworben habe, nicht mehr als "EWR-Staats­an­ge­hörige", was wiederum zur Folge habe, dass Herr Lounes nicht als Familien­an­ge­höriger einer EWR-Staats­an­ge­hörigen eine Aufent­haltskarte beanspruchen könne.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Gegen diesen Bescheid erhob Herr Lounes Klage beim High Court of Justice (England and Wales) (Hoher Gerichtshof, England und Wales). Da der High Court Zweifel hegt, ob der Bescheid und die ihm zugrunde liegende britische Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar sind, hat er dem Gerichtshof der Europäischen Union diese Frage zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt.

Richtlinie gewährt Nicht-EU-Bürgern als Familien­an­ge­hörige eines Unionsbürgers grundsätzlich keine eigenständigen Rechte

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die genannte Richtlinie Familien­an­ge­hörigen eines Unionsbürgers, die ihrerseits keine EU-Staats­an­ge­hörige sind, keine eigenständigen Rechte gewährt, sondern nur Rechte, die von denen abgeleitet sind, die der betreffende Unionsbürger aufgrund der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit genießt.

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass als "Berechtigte" im Sinne der Richtlinie diejenigen Unionsbürger gelten, die sich "in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit [sie besitzen]", begeben und sich dort aufhalten, sowie ihre Familien­an­ge­hörigen, die sie begleiten oder ihnen nachziehen**. Hingegen soll die Richtlinie - die die Voraussetzungen regelt, unter denen sich Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen - nicht den Aufenthalt von Unionsbürgern in demjenigen Mitgliedstaat regeln, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit sie selbst besitzen, weil sie dort nach den Grundsätzen des Völkerrechts über ein Aufent­haltsrecht verfügen, das an keinerlei Bedingungen geknüpft ist. Damit regelt die Richtlinie nur die Voraussetzungen, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als den seiner eigenen Staats­an­ge­hö­rigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf. Folglich kann auf die Richtlinie auch kein abgeleitetes Recht von Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat gestützt werden, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit dieser Unionsbürger besitzt.

Richtlinie seit Erwerb der britischen Staats­bür­ger­schaft auf Ehefrau nicht mehr anwendbar

Auch wenn im vorliegenden Fall feststeht, dass Frau Ormazabal ihr Recht auf Freizügigkeit ausübte, als sie 1996 Spanien verließ, um im Vereinigten Königreich zu leben, und damit "Berechtigte" im Sinne der Richtlinie war, bis sie dann die britische Staats­bür­ger­schaft erwarb, hält sie sich seither doch in einem der Mitgliedstaaten auf, deren Staats­an­ge­hö­rigkeit sie besitzt und in dem sie demgemäß ein völkerrechtlich bedingungsloses Aufent­haltsrecht genießt. Der Gerichtshof hat deshalb entschieden, dass die Richtlinie, seitdem Frau Ormazabal die britische Staats­bür­ger­schaft erlangt hat, ihren Aufenthalt im Vereinigten Königreich nicht mehr regeln soll und damit auf ihren Fall nicht mehr anwendbar ist. Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass Frau Ormazabal vorher von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, indem sie sich in das Vereinigte Königreich begab und sich dort aufhielt, und dass sie ihre spanische Staats­an­ge­hö­rigkeit zusätzlich zur britischen Staats­an­ge­hö­rigkeit behalten hat. Denn seit dem Erwerb der britischen Staats­an­ge­hö­rigkeit lebt Frau Ormazabal nicht mehr im Sinne der Richtlinie in einem "anderen als de[m] Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit [sie] besitzt", so dass sie nicht mehr unter den Begriff "Berechtigter" im Sinne dieser Richtlinie fällt. Dies bedeutet, dass auch ihr Ehegatte, Herr Lounes, auf der Grundlage der Richtlinie kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich genießen kann.

Nicht-EU-Bürger kann abgeleitetes Aufent­haltsrecht haben

Allerdings war nach Auffassung des Gerichtshofs weiter zu klären, ob Herr Lounes ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 EUV geltend machen kann. Nach dieser Vertrags­be­stimmung hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Nicht-EU-Staats­an­ge­höriger, der Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers ist, nach dieser Vertrags­be­stimmung in bestimmten Fällen ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht genießen kann. Dies gilt dann, wenn die Gewährung eines solchen Rechts erforderlich ist, damit der betreffende Unionsbürger die Freizügigkeit und seine Rechte gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV wirksam wahrnehmen kann.

Führen eines Familienlebens mit dritt­staats­an­ge­hörigem Ehegatten muss ermöglicht werden

Dabei verlangt die praktische Wirksamkeit dieser Unionsbürgern nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zustehenden Rechte und namentlich ihr Recht, durch das Zusammenleben mit ihren Angehörigen im Aufnah­me­mit­gliedstaat ein normales Familienleben zu führen, dass ein Bürger in der Lage von Frau Ormazabal dieses Recht im Aufnah­me­mit­gliedstaat auch dann weiterhin in Anspruch nehmen kann, wenn er die Staats­an­ge­hö­rigkeit dieses Staates zusätzlich zu seiner ursprünglichen Staats­an­ge­hö­rigkeit erworben hat. Dies schließt insbesondere ein, dass er ein Familienleben mit seinem dritt­staats­an­ge­hörigen Ehegatten führen kann, welchem hierfür ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht zu gewähren ist.

Regelungen zur Einbürgerung dürfen Integration nicht entgegen stehen

Jede gegenteilige Auslegung liefe zum einen darauf hinaus, Frau Ormazabal genauso zu behandeln wie einen britischen Staatsbürger, der das Vereinigte Königreich niemals verlassen hat, womit unberück­sichtigt bliebe, dass sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem sie sich in diesem Mitgliedstaat niedergelassen hat, und dass sie ihre spanische Staats­an­ge­hö­rigkeit behalten hat. Zum anderen liefe es dem durch Art. 21 Abs. 1 AEUV geförderten Gedanken der schrittweisen gesell­schaft­lichen Integration im Aufnah­me­mit­gliedstaat zuwider, wenn ein Unionsbürger in einer Lage wie der von Frau Ormazabal das Recht, im Aufnah­me­mit­gliedstaat ein normales Familienleben zu führen, deshalb verlöre, weil er sich im Wege der Einbürgerung gerade stärker in diesen Mitgliedstaat integrieren wollte.

Aufgrund dieser Erwägungen ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Nicht-EU-Staats­an­ge­höriger in einer Situation wie der von Herrn Lounes auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV über ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich verfügen kann, wobei die Voraussetzungen hierfür nicht strenger sein dürfen als diejenigen, die die Richtlinie für einen Nicht-EU-Staats­an­ge­hörigen vorsieht, der Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit er besitzt.

Erläuterungen

* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

** Siehe Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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