21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil10.05.2017

Dritt­staaten­angehöriger Elternteil kann für minderjähriges Kind mit Unions­bür­ger­schaft abgeleitetes Aufent­haltsrecht in der Union geltend machenMöglichkeit zur alleinigen Versorgung des Kindes durch in der EU lebenden Elternteils für Ablehnung der Aufenthalts­erlaubnis nicht ausreichend

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Staats­an­ge­höriger eines Nicht-EU-Landes als Elternteil eines minderjährigen Kindes, das die Unions­bür­ger­schaft besitzt, ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht in der Union geltend machen kann. Dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrnehmen könnte, ist als Gesichtspunkt von Bedeutung, genügt aber allein nicht, um eine Aufenthalts­erlaubnis abzulehnen. Vielmehr muss festgestellt werden, dass zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land kein Abhängigkeits­verhältnis in der Weise besteht, dass das Kind, wenn diesem Elternteil das Aufent­haltsrecht verweigert würde, das Unionsgebiet verlassen müsste.

Frau Chavez-Vilchez, eine venezolanische Staats­an­ge­hörige, reiste mit einem Touristenvisum in die Niederlande ein. Aus ihrer Beziehung mit einem nieder­län­dischen Staats­an­ge­hörigen ging im Jahr 2009 ein Kind hervor, das die niederländische Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzt. Die Eltern und ihr Kind lebten bis Juni 2011in Deutschland, als Frau Chavez-Vilchez und das Kind die Familienwohnung verlassen mussten und in die Niederlande zurückkehrten. Seither nimmt sie die Sorge für das Kind wahr; nach ihren Angaben trägt der Vater weder zum Unterhalt des Kindes noch zu seiner Erziehung bei. Jedoch wurden, weil Frau Chavez-Vilchez in den Niederlanden keine Aufent­halts­be­rech­tigung besitzt, dort ihre Anträge auf Sozialhilfe und Kindergeld von den Behörden abgelehnt.

Sieben ähnlich gelagerte Fälle - jedoch ohne Wahrnehmung des Freizü­gig­keits­rechts

Die Lage von sieben weiteren Frauen, die Staats­an­ge­hörige von Nicht-EU-Ländern sind, weist Ähnlichkeiten mit der von Frau Chavez-Vilchez auf: Es handelt sich ebenfalls um Mütter eines oder mehrerer Kinder mit nieder­län­discher Staats­an­ge­hö­rigkeit, deren Vater gleichfalls nieder­län­discher Staats­an­ge­höriger ist. Alle diese Kinder sind von ihrem Vater anerkannt worden, leben aber hauptsächlich oder ausschließlich bei der Mutter. Jedoch weisen diese Fälle auch Unterschiede auf, die das sorgerechtliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und die Beiträge zum Kindesunterhalt, die aufent­halts­rechtliche Lage der Mütter im Unionsgebiet und die Lage der minderjährigen Kinder selbst betreffen. Zudem haben die minderjährigen Kinder der anderen sieben Frauen im Unterschied zum Fall von Frau Chavez-Vilchez niemals von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht, weil sie seit ihrer Geburt immer in dem Mitgliedstaat (den Niederlanden) lebten, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit sie besitzen.

Nieder­län­disches Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zum möglichen abgeleiteten Aufent­haltsrecht

Der Centrale Raad van Beroep (Berufungs­gericht für den Bereich der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande), der mit gerichtlichen Verfahren wegen der Ablehnung der nieder­län­dischen Behörden, den betroffenen Müttern Sozialhilfe und Kindergeld zu gewähren, befasst ist, hat in dieser Sache ein Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen an den Gerichtshof gerichtet. Er möchte wissen, ob die Betroffenen als Mütter eines Kindes, das Unionsbürger ist, unter den Umständen ihres jeweiligen Einzelfalls ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht auf der Grundlage von Art. 20 AEUV (Unions­bür­ger­schaft) geltend machen können. Wenn diese Frage bejaht wird, könnten die Betroffenen nach nieder­län­dischem Recht gegebenenfalls Sozialhilfe oder Kindergeld beziehen. Der Centrale Raad van Beroep fragt insbesondere, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass der Vater, der Unionsbürger ist, in den Niederlanden oder in der Union lebt.

Nationales Gericht muss abgeleitetes Aufent­haltsrecht nach Freizü­gig­keits­richtlinie prüfen

In seinem Urteil betont der Gerichtshof vorab, dass die Lage von Frau Chavez-Vilchez und ihres Kindes, die beide von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, zunächst an Art. 21 AEUV (Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten) und der Richtlinie 2004/38* (die die Wahrnehmung der Freizügigkeit und des Aufent­halts­rechts erleichtern soll) zu messen ist. Jedoch ist es Sache des nieder­län­dischen Gerichts, zu klären, ob die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, so dass Frau Chavez-Vilchez auf dieser Grundlage ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht geltend machen könnte. Ist dies nicht der Fall, wäre ihre Lage und die ihres Kindes, wie im Fall der anderen betroffenen Mütter, im Licht von Art. 20 AEUV zu prüfen.

Tatsächliches Abhän­gig­keits­ver­hältnis zwischen Kind und Elternteil aus einem Nicht-EU-Land ist zu prüfen

Insoweit erinnert der Gerichtshof an seine Rechtsprechung, wonach Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen – einschließlich Entscheidungen, mit denen Familien­an­ge­hörigen eines Unionsbürgers ein Aufent­haltsrecht versagt wird – entgegensteht, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unions­bür­g­er­status verleiht, verwehrt wird. So könnte in den vorliegenden Fällen eine etwaige Verpflichtung der Mütter, das Unionsgebiet zu verlassen, ihren Kindern die Möglichkeit nehmen, den Kernbestand dieser Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil sie selbst das Unionsgebiet verlassen müssten. Hierüber zu befinden, ist Sache des nieder­län­dischen Gerichts. Um zu beurteilen, inwieweit diese Gefahr besteht, ist zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhän­gig­keits­ver­hältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land besteht. Hierbei müssen die Behörden das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Kindeswohl berücksichtigen.

Kindeswohl ist zu beachten

Der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, ist in diesem Zusammenhang ein Gesichtspunkt von Bedeutung, der aber allein nicht genügt, um feststellen zu können, dass zwischen dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land und dem Kind kein Abhän­gig­keits­ver­hältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Elternteil mit Dritt­staats­an­ge­hö­rigkeit ein Aufent­haltsrecht versagt würde. Einer solchen Feststellung muss vielmehr eine Berück­sich­tigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen, so insbesondere seines Alters, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil, der einem Nicht-EU-Land angehört, sowie des Risikos, das mit der Trennung vom letztgenannten Elternteil für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre.

Beweislast trägt nicht im EU-Land lebender Elternteil

Was die Beweislast angeht, so hat der Elternteil aus einem Nicht-EU-Land diejenigen Informationen beizubringen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob eine Entscheidung, mit der ihm ein Aufent­haltsrecht versagt würde, seinem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand seiner mit dem Unions­bür­g­er­status verbundenen Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil es gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.

Nationale Behörden müssen Lebensumstände des in der EU lebenden Elternteils prüfen

Jedoch haben die nationalen Behörden darüber zu wachen, dass die Anwendung einer nationalen Beweis­last­re­gelung nicht geeignet ist, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV zu beeinträchtigen. So müssen die nationalen Behörden ihrerseits die erforderlichen Ermittlungen anstellen, um festzustellen, wo sich der Elternteil, der Staats­an­ge­höriger dieses Mitgliedstaats ist, aufhält. Sie müssen auch prüfen, ob dieser Elternteil wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen. Ebenso haben sie zu prüfen, ob zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land ein Abhän­gig­keits­ver­hältnis in der Weise besteht, dass eine Entscheidung, mit der diesem Elternteil das Aufent­haltsrecht versagt würde, dem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand der mit seinem Unions­bür­g­er­status verbundenen Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil es dazu gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.

Erläuterungen

* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S.77, mit Berichtigungen in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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