21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil13.09.2016

Allein Sorge­be­rech­tigter Nicht-EU-Bürger eines minderjährigen Unionsbürgers darf Aufenthalts­erlaubnis nicht allein wegen Vorstrafen verweigert werdenAusweisungs­verfügung nur in Ausnahmen und verhält­nis­mäßigem Rahmen zulässig

Das Unionsrecht gestattet es nicht, einem für einen minderjährigen Unionsbürger allein sorge­be­rech­tigten Angehörigen eines Nicht-EU-Landes allein wegen dessen Vorstrafen eine Aufenthalts­erlaubnis zu verweigern oder seine Ausweisung aus dem Unionsgebiet zu verfügen. Eine Ausweisungs­verfügung darf nur ergehen, wenn sie verhältnismäßig ist und auf dem persönlichen Verhalten des Angehörigen eines Nicht-EU-Landes beruht, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahme­mitglied­staats berührt. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im zugrunde liegenden Verfahren wurde bei zwei Angehörigen von Nicht-EU-Ländern wegen ihrer Vorstrafen die Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis abgelehnt bzw. die Ausweisung verfügt. Diese Maßnahmen wurden von den Behörden des Mitgliedstaats getroffen, in dem die Betroffenen mit ihren von ihnen versorgten minderjährigen Kindern wohnen, die Unionsbürger sind. Herr Alfredo Rendón Marín ist der allein sorge­be­rechtigte Vater eines Jungen spanischer Staats­an­ge­hö­rigkeit und eines Mädchens polnischer Staats­an­ge­hö­rigkeit. Die beiden minderjährigen Kinder haben sich stets in Spanien aufgehalten. CS ist die allein sorge­be­rechtigte Mutter eines Kindes britischer Staats­an­ge­hö­rigkeit, das mit ihr im Vereinigten Königreich lebt.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Das Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen in der Rechtssache C-304/14 ist vom vorlegenden Gericht aufgrund eines entsprechenden Beschlusses ("Anonymity Order") zum Schutz des Wohls des Kindes von CS in anonymisierter Form eingereicht worden. Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) und das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) London (Senat für Einwanderung und Asyl des Obergerichts London, Vereinigtes Königreich) wollen vom Gerichtshof wissen, ob bei einem für einen minderjährigen Unionsbürger allein sorge­be­rech­tigten Angehörigen eines Nicht-EU-Landes das bloße Vorliegen von Vorstrafen die Verweigerung einer Aufent­halt­s­er­laubnis oder die Ausweisung rechtfertigen kann.

Unionsrecht steht nationaler Regelung entgegen

Mit seinen Urteilen entschied der Gerichtshof, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der einem Angehörigen eines Nicht-EU-Landes, der für einen minderjährigen Unionsbürger allein sorgeberechtigt ist, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufent­halt­s­er­laubnis zu verweigern bzw. seine Abschiebung zu verfügen ist, sofern diese Maßnahme zur Folge hat, dass das Kind das Unionsgebiet verlassen muss.

AEU-Vertrag verleiht jeder Person mit Besitz der Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats Status eines Unionsbürgers

Der Gerichtshof stellt zunächst klar, dass die Richtlinie über die Freizügigkeit und den freien Aufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hö­rigen* für Unionsbürger und ihre Familien­an­ge­hörigen gilt, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten. Auf Herrn Rendón Marín und seine Tochter polnischer Staats­an­ge­hö­rigkeit findet sie somit Anwendung, aber weder auf Herrn Rendón Marín und seinen Sohn spanischer Staats­an­ge­hö­rigkeit noch auf CS und ihr Kind, das die britische Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzt. Diese Kinder haben sich nämlich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit sie besitzen. Somit kann lediglich Herrn Rendón Marín und seiner polnischen Tochter ein Aufent­haltsrecht gemäß der Richtlinie zustehen. Der Gerichtshof weist sodann darauf hin, dass der AEU-Vertrag jeder Person, die die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht.

Status des Unionsbürgers berechtigt zum freien Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten

Aufgrund dieses Status hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Als Unionsbürgern steht dem Sohn von Herrn Rendón Marín und dem Kind von CS dieses Recht also zu. Der AEU-Vertrag steht nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss der Rechte, die ihnen ihr Unions­bür­g­er­status verleiht, verwehrt wird. Dies wäre der Fall, wenn ein Kind, das Unionsbürger ist, wegen der Verweigerung einer Aufent­halt­s­er­laubnis für den allein sorge­be­rech­tigten Angehörigen eines Nicht-EU-Landes oder wegen dessen Ausweisung gezwungen wäre, ihn zu begleiten und damit das Unionsgebiet zu verlassen.

Abweichen vom Aufent­haltsrecht der Unionsbürger oder deren Familien­an­ge­hörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung zulässig

Der Status als Unionsbürger lässt jedoch die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, von dem (auf der Richtlinie oder dem Vertrag beruhenden) Aufent­haltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familien­an­ge­hörigen insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit abzuweichen. Bei einer solchen Abweichung müssen die Charta und der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit beachtet werden, und sie muss auf dem persönlichen Verhalten des Betroffenen beruhen, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Gesellschaft des Aufnah­me­mit­glied­staats darstellen muss. Bei der Beurteilung der Verhält­nis­mä­ßigkeit der Abweichung sind u. a. folgende Kriterien heranzuziehen: Dauer des Aufenthalts, Alter, Gesund­heits­zustand, familiäre und wirtschaftliche Lage, soziale und kulturelle Integration, Ausmaß der Bindungen zum Herkunftsstaat und Schweregrad der Zuwiderhandlung.

Zum Fall von Herrn Rendón Marin führt der Gerichtshof aus, dass die im Jahr 2005 gegen ihn ergangene strafrechtliche Verurteilung für sich genommen, ohne Bewertung seines persönlichen Verhaltens und der etwaigen Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen könnte, eine Verweigerung der Aufent­halt­s­er­laubnis nicht zu rechtfertigen vermag.

Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind eng auszulegen

Überdies erkennt der Gerichtshof an, dass ein Mitgliedstaat unter außer­ge­wöhn­lichen Umständen eine Ausweisungsverfügung unter Berufung auf eine Ausnahme im Zusammenhang mit der Aufrecht­er­haltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erlassen kann. Diese Begriffe sind jedoch eng auszulegen. Zur Rechtfertigung einer solchen Maßnahme muss ermittelt werden, ob das persönliche Verhalten eines für einen minderjährigen Unionsbürger allein sorge­be­rech­tigten Angehörigen eines Nicht-EU-Landes in Anbetracht der Straftaten, die er begangen hat, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Insoweit sind die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen. Im Fall von CS ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Gericht des Vereinigten Königreichs den Grad ihrer Gefährlichkeit konkret einzuschätzen haben wird, wobei eine Inter­es­se­n­ab­wägung (unter Einbeziehung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert) vorzunehmen ist.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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