21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil22.05.2012

Bei besonders schweren Straftaten ist Ausweisung auch nach mehr als zehn Jahren Aufenthalt im Aufnah­me­mit­gliedstaat möglichSoziale Bindungen des Straftäters müssen bei Auswei­sungs­ent­scheidung Berück­sich­tigung finden

Straftaten im Bereich besonders schwerer Kriminalität, die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union angeführt sind, können die Ausweisung eines Unionsbürgers selbst dann rechtfertigen, wenn er mehr als zehn Jahre im Aufnah­me­mit­gliedstaat gelebt hat. Eine solche Ausweisung setzt jedoch voraus, dass das Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse des Aufnah­me­mit­glied­staats berührt. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Richtlinie über das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten*, regelt die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts und legt seine Grenzen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit fest. Danach darf der Aufnah­me­mit­gliedstaat gegen Unionsbürger, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen (nach Ablauf eines ununter­bro­chenen Zeitraums von mindestens fünf Jahren), eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen. Haben die Unionsbürger ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnah­me­mit­gliedstaat gehabt, darf die Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden.

In Deutschland lebender italienischer Staats­an­ge­höriger wegen sexueller Straftaten an achtjährigem Mädchen zur Freiheitsstrafe verurteilt

Herr I. ist italienischer Staats­an­ge­höriger und lebt seit 1987 in Deutschland. Er ist ledig und kinderlos. Er hat keine Schul- oder Berufs­aus­bildung abgeschlossen und war in Deutschland nur zeitweise erwerbstätig. Das Landgericht Köln verurteilte Herrn I. im Jahr 2006 wegen sexuellen Missbrauchs, sexueller Nötigung und Vergewaltigung eines zu Beginn der Taten acht Jahre alten Mädchens zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten. Die zugrunde liegenden Taten fanden in den Jahren 1990 bis 2001 statt. Herr I. befindet sich seit Januar 2006 in Haft, die voraussichtlich im Juli 2013 endet.

Deutsche Behörden stellen Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt des Straftäters fest

Mit Bescheid vom 6. Mai 2008 stellten die deutschen Behörden in Anwendung deutschen Rechts insbesondere wegen der Schwere der begangenen Taten und des Rückfallrisikos den Verlust des Rechts von Herrn I. auf Einreise und Aufenthalt fest und drohten ihm die Abschiebung nach Italien an. Herr. I. ging gegen diesen Auswei­sungs­be­scheid gerichtlich vor.

OVG bittet EuGH um Auslegung des Begriffs der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit"

Das mit der Berufung befasste Oberver­wal­tungs­gericht für das Land Nordrhein-Westfalen ersucht den Gerichtshof um Auslegung des Begriffs der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit, mit denen die Ausweisung eines Unionsbürgers gerechtfertigt werden kann, der sich seit mehr als zehn Jahren im Hoheitsgebiet des Aufnah­me­mit­glied­staats aufhält.

Nicht nur Beein­träch­tigung der öffentlichen Sicherheit, sondern auch Schweregrad der Tat entscheidend

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst auf seine frühere Entscheidung hin, wonach die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäu­bungs­mitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 23. 11.2010, Az. C-145/09).

Sodann führt der Gerichtshof aus, dass der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht nur voraussetzt, dass eine Beein­träch­tigung der öffentlichen Sicherheit vorliegt, sondern auch, dass die Beein­träch­tigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist; dies kommt im Gebrauch des Begriffs „zwingende Gründe“ zum Ausdruck.

Ausnahmen vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit sind eng auszulegen

Den Mitgliedstaaten steht es im Wesentlichen weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen – die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können – zu bestimmen, was die öffentliche Sicherheit erfordert. Jedoch sind diese Anforderungen, insbesondere wenn sie eine Ausnahme vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit rechtfertigen sollen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Europäischen Union bestimmt werden kann.

Sexuelle Ausbeutung von Kindern stellt besonders schwere Kriminalität mit grenz­über­schrei­tender Dimension dar

Bei der Klärung der Frage, ob Straftaten wie die von Herrn I. begangenen unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen, ist zu berücksichtigen, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu den im Vertrag ausdrücklich genannten Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenz­über­schrei­tender Dimension zählt**, in denen der Unions­ge­setzgeber tätig werden kann.

Art und Weise der Straftaten muss für zulässige Auswei­sungs­ver­fügung besonders schwerwiegende Merkmale aufweisen

Es steht den Mitgliedstaaten frei, Straftaten wie die in Art. 83 AEUV angeführten als besonders schwere Beein­träch­tigung eines grundlegenden gesell­schaft­lichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann. Allerdings kann mit solchen Straftaten eine Auswei­sungs­ver­fügung nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Art und Weise ihrer Begehung besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falls, mit dem es befasst ist, zu klären.

Sollte das vorlegende Gericht anhand der spezifischen Werte der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, dem es angehört, feststellen, dass Straftaten wie die von Herrn I. verübten die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar bedrohen, muss dies jedoch nicht zwangsläufig zur Ausweisung des Betroffenen führen.

Auswei­sungs­ver­fügung setzt tatsächliches und gegenwärtiges gefährliches Verhalten des Betroffenen voraus

Nach dem Unionsrecht setzt nämlich jede Auswei­sungs­ver­fügung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnah­me­mit­glied­staats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine Auswei­sungs­ver­fügung als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe ergeht, aber mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt wird, überprüfen müssen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, und beurteilen müssen, ob seit dem Erlass der Auswei­sungs­ver­fügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Aufnah­me­mit­gliedstaat, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staats, sein Alter, seinen Gesund­heits­zustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen hat.

Erläuterungen

* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35).

** Nach Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV handelt es sich um folgende Krimi­na­li­täts­be­reiche: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Compu­ter­kri­mi­nalität und organisierte Kriminalität.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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