23.11.2024
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Dokument-Nr. 27122

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Bundesverwaltungsgericht Urteil27.02.2019

Geringfügige Verspätung bei mündlicher Pflicht­fach­prüfung darf nicht zum Nichtbestehen der gesamten Prüfung führenBVerwG zu den Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhält­nis­mä­ßigkeit von prüfungs­recht­lichen Sanktionen

Das Bundes­verwaltungs­gericht hat entschieden, dass die landes­recht­lichen Vorschriften, die im Rahmen von berufsbezogenen Prüfungen Sanktionen vorsehen, nach dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG strengen Anforderungen in Bezug auf ihre Bestimmtheit und Verhält­nis­mä­ßigkeit unterliegen.

Die Klägerin des zugrunde liegenden Falls war zu dem Termin für die mündliche Prüfung im Rahmen der als Teil der ersten juristischen Prüfung abzulegenden staatlichen Pflicht­fach­prüfung pünktlich erschienen und hatte den als Prüfungs­leistung zu erbringenden Vortrag absolviert. Sie war dann jedoch aus einer Pause unentschuldigt nicht rechtzeitig zu dem Beginn des Prüfungs­ge­sprächs als weiterem Bestandteil der mündlichen Prüfung zurückgekehrt. Ihr wurde die Teilnahme an dem bereits seit fünf Minuten laufenden Prüfungs­ge­spräch verweigert. Auch nach einer Pause durfte sie an dem weiteren Prüfungs­ge­spräch nicht teilnehmen. Das Justiz­prü­fungsamt erklärte die staatliche Pflicht­fach­prüfung unter Verweis auf § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 des nordrhein-westfälischen Juris­te­n­aus­bil­dungs­ge­setzes (JAG NRW) für nicht bestanden. Die Vorschrift sieht diese Sanktion vor, wenn ein Prüfling ohne genügende Entschuldigung den Termin für die mündliche Prüfung nicht bis zum Ende der Prüfung wahrnimmt.

Versäumter Prüfungsteil kann aus Gründen der Verhält­nis­mä­ßigkeit im Einzelfall mit Punkten bewertet werden

Die von der Klägerin erhobene Klage blieb vor dem Verwal­tungs­gericht Minden und dem Oberver­wal­tungs­gericht Münster ohne Erfolg. Auf ihre Revision änderte das Bundes­ver­wal­tungs­gericht die vorin­sta­nz­lichen Urteile und hob den angegriffenen Bescheid des Justiz­prü­fungsamts auf. Nach der für das Bundes­ver­wal­tungs­gericht bindenden Auslegung der landes­recht­lichen Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW durch das Oberver­wal­tungs­gericht kann deren Tatbestand nicht nur dadurch verwirklicht werden, dass ein Prüfling den Termin für die mündliche Prüfung ohne genügende Entschuldigung aus eigenem Entschluss verlässt. Erfasst werden auch Fälle, in denen einem Prüfling die weitere Teilnahme an dem Termin wegen eines vorwerfbaren Verhaltens zu Recht verweigert wird. Die Rechtsfolge besteht nach dem Verständnis des Oberver­wal­tungs­ge­richts im Regelfall entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift darin, dass die gesamte staatliche Pflicht­fach­prüfung für nicht bestanden zu erklären ist. Es kommt jedoch in Betracht, stattdessen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall den versäumten Prüfungsteil mit Punkten zu bewerten.

Anwendung der Vorschrift für Prüflinge nicht vorhersehbar

Nach dem prüfungs­recht­lichen Bestimmt­heitsgebot müssen Sanktionsnormen nach ihrem Tatbestand und nach der vorgesehenen Rechtsfolge dem Prüfling ermöglichen, sich so zu verhalten, dass er jede Gefahr einer Sanktion vermeidet. Diesen Anforderungen wird § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW in der Auslegung durch das Oberver­wal­tungs­gericht nicht gerecht, da seine Anwendung für die Prüflinge nicht vorhersehbar ist. Die Norm gewinnt tatbestandlich den Charakter einer sankti­o­ns­recht­lichen Generalklausel und kann Rechtsfolgen nach sich ziehen, die in ihrem Wortlaut in keiner Weise aufscheinen.

Vorschrift verstößt gegen Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit

Zudem verstößt die Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW in ihrer Auslegung durch das Oberver­wal­tungs­gericht gegen den bundes­ver­fas­sungs­recht­lichen Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Sie ermöglicht eine Sanktion nicht nur in Fällen, in denen ein Prüfling die laufende mündliche Prüfung abbricht, um in einem neuen Termin seine Erfolgschancen zu erhöhen. Erfasst werden vielmehr auch Fälle, in denen sich der Prüfling geringfügig verspätet und an der Prüfung teilnehmen will. In dieser Konstellation wiegen die von dem Oberver­wal­tungs­gericht für möglich gehaltenen Sanktionen zu schwer.

Vorschrift greift nur bei Ausstieg aus mündlicher Prüfung aus eigenem Entschluss

Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW verfas­sungs­konform dahingehend ausgelegt, dass die Norm nach ihrem Tatbestand nur diejenigen Fälle erfasst, in denen ein Prüfling aus der begonnenen mündlichen Prüfung aus eigenem Entschluss aussteigt, und hieran die ausdrücklich vorgesehene Rechtsfolge des Nichtbestehens der staatlichen Pflicht­fach­prüfung geknüpft wird. Mit diesem Kerngehalt genügt die Vorschrift nicht nur dem prüfungs­spe­zi­fischen Bestimmt­heitsgebot, sondern steht, da sie dem prüfungs­recht­lichen Grundsatz der Chancen­gleichheit dient, auch mit dem an Art. 12 Abs. 1 GG ausgerichteten Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit im Einklang. Der Fall der Klägerin wird von diesem verfas­sungs­rechtlich unbedenklichen Regelungsgehalt nicht erfasst.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht/ra-online (pm)

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