21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.06.2018

Verfassungs­beschwerde gegen Aufrecht­er­haltung einer Unter­su­chungshaft wegen Überlastung des Gerichts erfolgreichVerhand­lungs­dichte mit weit weniger als einem Verhandlungstag pro Woche wird verfassungs­rechtlichen Beschleunigungs­gebot nicht gerecht

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungs­bereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt. Einem Beschuldigten darf daher nicht zugemutet werden, eine unangemessen lange Aufrecht­er­haltung der Unter­su­chungshaft nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfas­sungs­gemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Das Bundes­verfassungs­gericht gab damit der Verfassungs­beschwerde eines Beschuldigten gegen eine Haft­fort­dauer­entscheidung statt und wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht Dresden zurück. Das Verfahren war nicht in der gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Die Fachgerichte hatten bereits nicht schlüssig begründet, warum ein besonderer Ausnahmefall vorgelegen haben sollte, der es gerechtfertigt hätte, dass das Landgericht Dresden erst ein Jahr und einen Monat nach Beginn der Unter­su­chungshaft und sieben Monate nach der Anklageerhebung mit der Haupt­ver­handlung begonnen hat. Erst recht wird die bisherige Verhand­lungs­dichte mit weit weniger als einem Verhandlungstag pro Woche dem verfassungs­rechtlichen Beschleunigungs­gebot nicht gerecht.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens befindet sich seit dem 3. November 2016 unter anderem wegen des Verdachts der schweren räuberischen Erpressung und der Bildung einer kriminellen Vereinigung ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die unter dem 25. April 2017 verfasste Anklageschrift der Staats­an­walt­schaft ging am 27. April 2017 beim Landgericht ein. Am selben Tag zeigte der Vorsitzende der zuständigen 3. Großen Strafkammer (Staats­schutz­kammer) - wie bereits zwei Mal zuvor im Jahr 2017 - beim Präsidium des Landgerichts die Überlastung der Kammer an. Am 13. Juni 2017 erklärte der Präsident des Landgerichts, dass er von einer nunmehr dauerhaften Überlastung der 3. Großen Strafkammer ausgehe, und errichtete die 16. Große Strafkammer als weitere Staats­schutz­kammer, die das Verfahren aufgrund Beschlusses des Präsidiums zum 1. Juli 2017 übernahm. Am 21. November 2017 ließ das Landgericht die Anklage zu und beschloss die Eröffnung des Hauptverfahrens. Die Haupt­ver­handlung begann am 6. Dezember 2017. Bis zum 23. Mai 2018 hatte die Kammer 21 Termine anberaumt. Im Zeitraum Juni bis August 2018 hat die Kammer einen bis zwei Termine pro Monat anberaumt, in der Zeit bis zum 9. Januar 2019 drei bis vier Termine pro Monat. Einen Haftprü­fungs­antrag des Beschwer­de­führers vom 7. Februar 2018 wies das Landgericht zurück. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht Dresden mit Beschluss vom 27. März 2018 als unbegründet. Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.

Entzug der Freiheit eines lediglich Verdächtigen wegen Unschulds­ver­mutung nur ausnahmsweise zulässig

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts Dresden den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt. Bei der Anordnung und Aufrecht­er­haltung der Unter­su­chungshaft ist das Spannungs­ver­hältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschulds­ver­mutung nur ausnahmsweise zulässig.

Kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein

Die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So ist im Falle der Entschei­dungsreife über die Zulassung der Anklage zur Haupt­ver­handlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Haupt­ver­handlung zu beginnen. Die Unter­su­chungshaft kann dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen die Fortdauer der Unter­su­chungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Unter­su­chungshaft zu dienen. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verant­wor­tungs­bereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfah­rens­an­ge­messene Aufrecht­er­haltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfas­sungs­gemäßen Ausstattung der Gerichte nachzukommen.

Gerichtliche Begründung rechtfertigt keine Fortdauer der Unter­su­chungshaft

Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Oberlan­des­ge­richts Dresden nicht. Er enthält keine verfas­sungs­rechtlich tragfähige Begründung, die eine weitere Fortdauer der Unter­su­chungshaft rechtfertigen könnte. Das Verfahren ist nicht in der durch das Gewicht des Freiheits­ein­griffs gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Der angegriffene Beschluss zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Fortdauer der Unter­su­chungshaft verfas­sungs­rechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Begründung von Haftfort­dau­e­rent­schei­dungen nicht gerecht.

Zustand dauerhafter Überlastung hat nicht Beschwer­de­führer, sondern allein Justiz­ver­waltung zu vertreten

Das Oberlan­des­gericht hat bereits nicht schlüssig begründet, warum es sich um einen besonderen Ausnahmefall handeln soll, der es rechtfertigt, dass das Landgericht erst ein Jahr und einen Monat nach Beginn der Unter­su­chungshaft und sieben Monate nach der Anklageerhebung mit der Haupt­ver­handlung begonnen hat. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, warum es nach Anklageerhebung zwei Monate dauerte, bis das Landgericht eine weitere Strafkammer errichtet hatte, die das Verfahren übernehmen konnte. Die Belas­tungs­si­tuation der ursprünglich zuständigen Strafkammer war seit längerem bekannt, auch schon vor der Anklageerhebung im vorliegenden Verfahren. Diesen Zustand dauerhafter Überlastung hat nicht der Beschwer­de­führer, sondern allein die Justiz­ver­waltung zu vertreten, der es obliegt, die Gerichte rechtzeitig in einer Weise mit Personal auszustatten, die eine den rechts­s­taat­lichen Anforderungen genügende Verfah­rens­ge­staltung erlaubt. Dieser verfas­sungs­recht­lichen Pflicht ist sie nicht nachgekommen. Auch die Errichtung der zusätzlichen Kammer hat indes nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfah­rens­ver­zö­gerung wirksam kompensiert worden ist.

Bisherige Verhand­lungs­dichte nicht ausreichend

Erst recht ist die bisherige Verhand­lungs­dichte nicht ausreichend, um den Anforderungen des Beschleu­ni­gungs­gebots zu genügen. Seit Beginn der Haupt­ver­handlung am 6. Dezember 2017 hat die Strafkammer in dem unter anderem gegen den Beschwer­de­führer gerichteten Verfahren im Schnitt weit weniger als einmal pro Woche verhandelt. Zweifelhaft ist auch, ob der Umstand, dass das vorliegende Verfahren in einem sachlichen Zusammenhang mit weiteren, bei derselben Strafkammer anhängigen Strafverfahren steht, die Verzögerungen bis zum Beginn der Haupt­ver­handlung und die seither ungenügende Verhand­lungs­dichte zu kompensieren vermag. Sind bei derselben Strafkammer mehrere Verfahren gleichzeitig anhängig, die zwar sachlich zusammenhängen, aber gerade nicht miteinander verbunden worden sind, kann dies nicht dazu führen, dass der Beschwer­de­führer eine verzögerte Durchführung des gegen ihn gerichteten Verfahrens hinzunehmen hat. Überdies ist nicht erkennbar, inwiefern die getrennte Anklage und Verhandlung der im Zusammenhang stehenden Verfahren einer Verfah­rens­be­schleu­nigung dienen könnte oder bislang zu einer solchen Beschleunigung beigetragen hat.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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