18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.06.2008

Außergewöhnlich lange Unter­su­chungshaft: Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Aufrecht­er­haltung von Unter­su­chungshaftUnter­su­chungshaft von über einem Jahr nur in besonderen Ausnahmefällen

Auch wenn ein mutmaßlicher Täter schon in erster Instanz verurteilt worden ist, müssen die Gerichte in den nachfolgenden Instanzen zügig arbeiten. Das geht aus einem Beschluss des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor, die über die Verfas­sungs­be­schwerde eine Mannes zu entscheiden hatte, der seit über einem Jahre in Unter­su­chungshaft sitzt.

Der Beschwer­de­führer befindet sich wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern seit Juni 2006 - mit einer Unterbrechung von rund sechs Monaten - in Untersuchungshaft. Die Anklage wurde im Oktober 2006 zur Haupt­ver­handlung vor dem Amtsgericht zugelassen. Nachdem der Beschwer­de­führer methodische Mängel des eingeholten aussa­ge­psy­cho­lo­gischen Gutachtens gerügt hatte, setzte das Amtsgericht Ende November 2006 den Haftbefehl außer Vollzug und holte die Stellungnahme einer weiteren Sachver­ständigen ein, die dem Gericht im Dezember 2007 vorlag. Mitte Mai 2007 wurde der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Ab Juli 2007 fand die Haupt­ver­handlung statt. Im September 2007 wurde der Beschwer­de­führer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Hiergegen legten der Beschwer­de­führer und die Staats­an­walt­schaft Berufung ein. Nach Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens setzte das Landgericht mehrere Verhand­lungs­termine für Juni 2008 fest.

Einen Ende Januar 2008 gestellten Haftprü­fungs­antrag des Beschwer­de­führers wiesen das Landgericht und das Oberlan­des­gericht zurück. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletzen. Die Sache wurde an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die angegriffenen Entscheidungen lassen die gebotene Abwägung zwischen dem Freiheits­an­spruch des Beschuldigten und dem staatlichen Straf­ver­fol­gungs­an­spruch nicht erkennen. Sie gehen weder auf den Verfah­rens­ablauf noch auf mögliche Verzögerungen sowie deren Ursachen ein. Bei der erneuten Abwägung wird das Oberlan­des­gericht zu berücksichtigen haben, dass der Vollzug der Unter­su­chungshaft von mehr als einem Jahr nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen ist. Zwar hat sich mit der (noch nicht rechtskräftigen) Verurteilung des Beschwer­de­führers durch das Amtsgericht das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert, da auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist. Das rechtfertigt es aber grundsätzlich nicht, einen Verurteilten bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Unter­su­chungshaft zu halten. Dem steht schon der Resozi­a­li­sie­rungszweck der Strafe entgegen; denn wird die verhängte Freiheitsstrafe durch Anrechnung der Unter­su­chungshaft zum überwiegenden Teil oder gar vollständig verbüßt, so können die im Rahmen des Vollzugs der Strafhaft möglichen Maßnahmen zur Resozi­a­li­sierung nur in geringem Ausmaß oder überhaupt keine Wirkung entfalten. Das Oberlan­des­gericht hat daher in seine Abwägungs­ent­scheidung den noch konkret zu erwartenden Strafrest einzubeziehen. Dabei wird es auch eine mögliche Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu berücksichtigen haben, zumal der Beschwer­de­führer zuvor nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.

Hinzukommt, dass im Hinblick auf die Verfahrensdauer die Verfah­rens­be­handlung vor dem Amtsgericht Bedenken begegnet. Dem Beschleu­ni­gungsgebot ist - sofern nicht besondere Umstände vorliegen - nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Haupt­ver­handlung begonnen wird. Das Oberlan­des­gericht wird deshalb im Einzelnen zu erwägen haben, ob die Verschiebung der Haupt­ver­handlung vom ursprünglich vorgesehenen Termin Anfang Dezember 2006 auf Juli 2007 gerechtfertigt war. Es wird zu berücksichtigen haben, dass in der Zeit von Ende Dezember 2006 bis Ende März 2007 keine verfah­rens­för­dernden Handlungen vorgenommen wurden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 65/08 des BVerfG vom 20.06.2008

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