21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.03.2012

Ausschluss der Anrechnung von Maßre­gel­voll­zugs­zeiten auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen teilweise verfas­sungs­widrigZeit des Maßre­gel­vollzugs ist in Härtefällen bis zu einer Neuregelung durch Gesetzgeber auch auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen anzurechnen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat § 67 Abs. 4 des Straf­ge­setz­buches (StGB) insoweit für verfas­sungs­widrig erklärt, als er die Anrechnung einer im Maßregelvollzug verbrachten Zeit auf so genannte verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen auch in Härtefällen ausschließt.

Dem deutschen Strafrecht liegt ein zweispuriges Sankti­o­nen­system zugrunde, das sich durch ein Nebeneinander von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung auszeichnet. Eine Freiheits­ent­ziehung kann entweder auf der Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (§§ 38, 39 StGB) oder auf der Anordnung einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Besserung und Sicherung (§§ 63, 64, 66 ff. StGB) beruhen. Sind sowohl eine Freiheitsstrafe als auch eine freiheits­ent­ziehende Maßregel der Besserung und Sicherung zu vollstrecken, bestimmt § 67 StGB das Verhältnis der beiden Freiheits­ent­zie­hungen zueinander. Nach § 67 Abs. 1 StGB wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, wenn die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63, 64 StGB neben einer Freiheitsstrafe angeordnet wird. In Ergänzung dazu bestimmt § 67 Abs. 4 StGB, dass die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet wird, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Das gilt allerdings nur, wenn Freiheitsstrafe und Maßregel im selben Urteil verhängt oder weitere Freiheits­s­trafen gesamt­s­tra­fenfähig sind.

Verurteilung des Beschwer­de­führers nach langwierigem Verfahren zu Freiheitsstrafe und Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls, bei dem bereits in jugendlichem Alter eine behand­lungs­be­dürftige psychische Erkrankung diagnostiziert worden war, wurde in den Jahren 1992, 1993 und 2000 zu unter­schied­lichen Freiheits­s­trafen verurteilt. Unter anderem wurde er im Jahr 1993 vom Landgericht Hanau wegen schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körper­ver­letzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das auf diese Verurteilung folgende Vollstre­ckungs­ver­fahren gestaltete sich langwierig. Die als Vollstre­ckungs­behörde zuständige Staats­an­walt­schaft schob die Straf­voll­streckung nach sachver­ständiger Beratung wiederholt wegen der fortbestehenden psychischen Erkrankung des Beschwer­de­führers auf, so dass bis in das Jahr 2004 hinein keine der ausgesprochenen Freiheits­s­trafen vollstreckt werden konnte. Schließlich wurde der Beschwer­de­führer im Juni 2004 vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und vorsätzlicher Körper­ver­letzung zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Beschwer­de­führer beantragt korrigierte Straf­zeit­be­rechnung unter Anrechnung der im Maßregelvollzug verbüßten Unter­brin­gungszeit

Vom 5. August 2004 bis 15. Januar 2009 befand sich der Beschwer­de­führer auf Grundlage dieses Urteils im Maßregelvollzug, wo ein so beachtlicher Behand­lungs­erfolg erzielt werden konnte, dass der zuletzt tätige Sachverständige Entlas­sungs­vor­be­rei­tungen befürwortete. Dem stand entgegen, dass die noch nicht erledigten Freiheits­s­trafen weiterhin zu vollstrecken waren. Nach der Ablehnung eines vom Beschwer­de­führer deswegen gestellten Gnadengesuchs durch die zuständigen Behörden Ende des Jahres 2007 verlegte die Einrichtung des Maßre­gel­vollzugs den Beschwer­de­führer wegen Fluchtgefahr in eine gesicherte Station. Mit Wirkung vom 15. Januar 2009 wurde die Vollstreckung der Maßregel auf Antrag des Beschwer­de­führers unterbrochen und mit der Straf­voll­streckung aus dem Urteil des Landgerichts Hanau begonnen. Der Beschwer­de­führer beantragte daraufhin eine korrigierte Straf­zeit­be­rechnung unter Anrechnung der im Maßregelvollzug verbüßten Unter­brin­gungszeit auf die Gesamt­voll­stre­ckungszeit. Diesen Antrag lehnten die Staats­an­walt­schaft ebenso wie die zuständigen Vollstre­ckungs­ge­richte unter Hinweis auf die eindeutige Regelung in § 67 Abs. 4 StGB ab.

Anrechnung der Maßvoll­zugs­zeiten auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen zu Unrecht ausgeschlossen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der hiergegen erhobenen Verfas­sungs­be­schwerde stattgegeben und entschieden, dass § 67 Abs. 4 StGB mit Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) insoweit unvereinbar ist, als er es ausnahmslos ausschließt, die Zeit des Vollzugs einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Besserung und Sicherung auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen anzurechnen. Zugleich hat das Gericht gemäß § 35 des Gesetzes über das Bundes­ver­fas­sungs­gericht angeordnet, dass bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber in Härtefällen nach Maßgabe der Entschei­dungs­gründe die Zeit des Vollzuges einer Maßregel der Besserung und Sicherung auch auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen angerechnet werden muss.

Gerade Maßregelvollzug muss auf Ziel der Resozi­a­li­sierung ausgerichtet sein

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete "Freiheit der Person" darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden. Die Berechtigung des Staates, Freiheits­s­trafen zu verhängen und zu vollstrecken, beruht auf der schuldhaften Begehung der Straftat. Die Unterbringung aufgrund einer Maßregel der Besserung und Sicherung findet ihre Berechtigung dagegen in der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr und dem damit korre­spon­die­renden Siche­rungs­be­dürfnis der Allgemeinheit. Da die der Maßre­ge­l­a­n­ordnung zugrun­de­liegende Störung oder Erkrankung schicksalhaft und die aus ihr abzuleitende Gefährlichkeit kein vom Untergebrachten beherrschbares Persön­lich­keits­merkmal ist, wird dem Untergebrachten mit dem Maßregelvollzug ein Sonderopfer auferlegt. Aus diesem Umstand und aus der Würde des Menschen, dem Sozial­staats­prinzip und dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit folgt, dass gerade der Maßregelvollzug auf das Ziel der Resozi­a­li­sierung ausgerichtet sein muss.

Schwere des Eingriffs darf im Ergebnis nicht außer Verhältnis zum Gewicht der ihn recht­fer­ti­genden Gründe stehen

Der staatliche Strafanspruch und, daraus folgend, das Gebot, rechtskräftig verhängte, tat- und schuld­an­ge­messene Strafen auch zu vollstrecken, sind zwar gewichtige Gründe des Gemeinwohls. Die Schwere des mit seiner Verwirklichung verbundenen Eingriffs darf im Ergebnis jedoch nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn recht­fer­ti­genden Gründe stehen. Mehrere für sich betrachtet möglicherweise angemessene oder zumutbare Eingriffe können dabei in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beein­träch­tigung führen, die das Maß des rechtsstaatlich Hinnehmbaren überschreitet.

Gefährdung der im Maßregelvollzug erzielten Therapieerfolge durch anschließende Straf­voll­streckung nur bei wichtigen Gründen gerechtfertigt

Freiheits­s­trafen und freiheits­ent­ziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung sind einander daher so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird. Nur gewichtige Gründe können es rechtfertigen, im Maßregelvollzug erzielte Therapieerfolge durch eine anschließende Straf­voll­streckung zu gefährden. Da Freiheitsstrafe und Maßregel nach recht­fer­ti­gendem Grund und Zielrichtung grundsätzlich nebeneinander stehen, gebietet Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG jedoch keine generelle Anrechnung.

Härtefälle nicht immer vermeidbar

Durch die von § 67 Abs. 4 StGB vorgegebene Nichtanrechnung der Maßre­gel­voll­zugs­zeiten auf verfah­rens­fremde Freiheits­s­trafen kann sich eine Kumulation von Freiheits­ent­zie­hungen aufgrund von Straf­voll­streckung und Maßregelvollzug ergeben. Die damit verbundenen Belastungen lassen sich durch die vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten vollstre­ckungs­recht­lichen Instrumentarien nur begrenzt beeinflussen, denn sie sind weder je für sich noch im Hinblick auf ihr wechselseitiges Verhältnis hinreichend aufeinander abgestimmt und reichen daher nicht aus, um Härtefälle zu vermeiden.

Nichtanrechnung der Maßre­gel­voll­zugs­zeiten auf noch nicht vollstreckte Freiheits­s­trafen hier nicht hinnehmbar

Durch die Anwendung von § 67 Abs. 4 StGB bewirken die angegriffenen Entscheidungen eine Kumulation von Eingriffen in das Freiheitsrecht des Beschwer­de­führers, die angesichts der außer­ge­wöhn­lichen Umstände des zu entscheidenden Falles über das rechtsstaatlich hinnehmbare Maß hinausgeht. Durch die Nichtanrechnung der Maßre­gel­voll­zugs­zeiten auf die noch nicht vollstreckten Freiheits­s­trafen muss der Beschwer­de­führer entweder eine jahrelange Anschluss­straf­voll­streckung erleiden oder den Maßregelvollzug zum Zwecke des Strafvollzugs langwierig unterbrechen. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass der bereits erzielte Behand­lungs­erfolg voraussichtlich nahezu vollständig wieder zunichte gemacht, die erfolgreiche Resozi­a­li­sierung des Beschwer­de­führers vereitelt und das ihm auferlegte Sonderopfer damit sinnentleert wird.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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