21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.02.2013

Nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung im Anschluss an psychiatrische Unterbringung nur unter engen VoraussetzungenNachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung nur bei hochgradiger Gefahr gerechtfertigt

Bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung, längstens jedoch bis 31. Mai 2013, darf die nachträgliche Sicher­heits­ver­wahrung nur noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung leidet. Die genannten Grundsätze gelten auch dann, wenn der Betroffene zuvor in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war. In diesen Fällen wird nicht lediglich eine unbefristete Maßregel durch eine andere ersetzt, sondern es handelt sich bei der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung um einen neuen, eigenständigen Grund­recht­s­eingriff. Erfolgt dieser auf der Grundlage eines Gesetzes, das im Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstaten noch nicht in Kraft getreten war, kommt den betroffenen Vertrau­ens­schutz­be­langen ein besonders hohes Gewicht zu. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Entscheidung liegen die folgenden Erwägungen zugrunde:

Vorschrift verstößt gegen Abstandsgebot

1. § 66 b des Straf­ge­setz­buches (StGB) regelt die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung in Fällen, in denen während der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus festgestellt wird, dass der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand nicht (mehr) vorliegt. Mit Urteil vom 4. Mai 2011 hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Zugleich hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Weitergeltung dieser Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013, angeordnet. Sie darf jedoch während der Fortgeltung nur nach Maßgabe einer strikten Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung angewandt werden.

Beschwer­de­führer wenden sich gegen Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung

2. Mit den Verfas­sungs­be­schwerden wenden sich die Beschwer­de­führer gegen die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung, die nach Erledigung ihrer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nachträglich angeordnet worden ist.

Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung ersetzt unbefristete freiheits­ent­ziehende Maßregel durch eine andere

a) Der Beschwer­de­führer des Verfahrens 2 BvR 2122/11 befand sich nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe wegen mehrerer sexuell motivierter Gewaltverbrechen im Maßregelvollzug. Die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts erklärte die Unterbringung im April 2007 für erledigt, weil - anders als noch im Ausgangsurteil angenommen - kein Zustand vorgelegen habe, der die Schuldfähigkeit des Beschwer­de­führers ausgeschlossen oder vermindert habe. Im März 2008 ordnete das Landgericht seine nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung an, da er hochgefährlich sei. Einen Antrag des Beschwer­de­führers auf Aussetzung der Siche­rungs­ver­wahrung zur Bewährung lehnte die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts mit angegriffenem Beschluss vom 15. Juli 2011 ab. Mit der Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung werde lediglich eine unbefristete freiheits­ent­ziehende Maßregel durch eine andere ersetzt; der Beschwer­de­führer werde daher im Ergebnis nicht schlechter gestellt. Die sofortige Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 22. August 2011.

Nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung auf Bewährung nicht genehmigt

b) Der Beschwer­de­führer des Verfahrens 2 BvR 2705/11 war ebenfalls wegen mehrerer sexuell motivierter Gewalt­ver­brechen in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Nachdem ihm durch zwei Gutachten bescheinigt worden war, dass keine Persönlichkeitsstörung vorliege, erklärte die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts seine Unterbringung im Juli 2007 für erledigt. Zugleich ordnete sie seine einstweilige Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung an. Das Oberlan­des­gericht hob diese einstweilige Unter­brin­gungs­a­n­ordnung jedoch auf, woraufhin sich der Beschwer­de­führer für zwei Wochen auf freiem Fuß befand. Im April 2008 ordnete das Landgericht die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung an. Den Antrag des Beschwer­de­führers, die Siche­rungs­ver­wahrung zur Bewährung auszusetzen, wies die Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts mit Beschluss vom 30. August 2011 zurück; die sofortige Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht am 15. November 2011. Die Begründungen dieser beiden angegriffenen Beschlüsse entsprechen denen des Verfahrens 2 BvR 2122/11.

Entschädigung aufgrund Indivi­du­al­be­schwerde

c) Eine vorherige Verfas­sungs­be­schwerde beider Beschwer­de­führer gegen die ursprüngliche Anordnung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung war nicht zur Entscheidung angenommen worden (BVerfGK 16, 98). Beide Beschwer­de­führer erhoben hieraufhin Indivi­du­al­be­schwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ihnen wegen Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK eine Entschädigung zugesprochen hat (Urteil vom 7. Juni 2012, Beschwerde-Nr. 65210/09 bzw. 61827/09).

Beschlüsse verletzen Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf Freiheit

3. Die Verfas­sungs­be­schwerden sind begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2) in Verbindung mit dem Vertrau­ens­schutzgebot (Art. 20 Abs. 3 GG).

Eingriff und grundrechtlich geschütztes Vertrauen

a) Die durch § 66 b StGB ermöglichte nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung greift in grundrechtlich geschütztes Vertrauen ein. Dies gilt insbesondere, wenn die Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor Inkrafttreten der Vorschrift verurteilt wurden (sogenannte Altfälle). Da die Siche­rungs­ver­wahrung zu einer unbefristeten Freiheits­ent­ziehung führt, kommt den betroffenen Vertrau­ens­schutz­be­langen ein besonders hohes Gewicht zu.

Nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung beinhaltet neuen Grund­recht­s­eingriff

b) Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass bei der nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung lediglich eine „Überweisung“ von einer zeitlich nicht begrenzten freiheits­ent­zie­henden Maßnahme in eine andere stattfinde und daher Vertrau­ens­schutz­belange nur nachrangig berührt seien. Die Siche­rungs­ver­wahrung im Anschluss an die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beinhaltet nicht eine bloße Fortführung der vorherigen Maßregel auf veränderter Rechtsgrundlage, sondern einen neuen, eigenständigen Grundrechtseingriff. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Siche­rungs­ver­wahrung nur angeordnet werden kann, wenn zuvor die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt worden ist. Die Eigen­stän­digkeit spiegelt sich zudem in der Ausgestaltung des Anord­nungs­ver­fahrens wider. Während die Erledi­gungs­er­klärung von der Straf­voll­stre­ckungs­kammer am Ort der Unterbringung ausgesprochen wird, wird die Siche­rungs­ver­wahrung durch das Tatgericht angeordnet. Hinzu kommt, dass beide Maßregeln sich auch qualitativ voneinander unterscheiden.

Rechtfertigung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung bei Vorliegen psychischer Störung möglich

c) Das Gewicht der betroffenen Vertrau­ens­schutz­belange wird durch die Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention verstärkt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit seinen Urteilen vom 7. Juni 2012 festgestellt, dass die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK verstößt. Aus der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich darüber hinaus, dass eine konven­ti­o­ns­rechtliche Rechtfertigung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung in Altfällen nur unter den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK (d. h. bei Vorliegen einer psychischen Störung) in Betracht kommt.

Aussprache nachträglicher Siche­rungs­ver­wahrung nur bei großer bestehender Gefahr

Damit bestätigen die Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, dass sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen auf ein Unterbleiben der Siche­rungs­ver­wahrung in Altfällen einem absoluten Vertrauensschutz annähert. Eine nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung darf daher in diesen Fällen nur noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Thera­pie­un­ter­brin­gungs­ge­setzes leidet.

Über Fortdauer der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung muss neu entschieden werden

d) Das Oberlan­des­gericht wird deshalb nach Maßgabe der Überg­angs­re­gelung aus dem Urteil vom 4. Mai 2011 erneut über die Fortdauer der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung zu befinden haben.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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