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Dokument-Nr. 13611

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil07.06.2012

Kein Strafe ohne Gesetz: EGMR erklärt nachträglich angeordnete Siche­rungs­ver­wahrung für unzulässigNachtägliche Siche­rungs­ver­wahrung stellt höhere Strafe dar, als die zum Zeitpunkt der Verurteilung angedrohte Strafe

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die nachträgliche Unterbringung zweier in den Jahren 1987 und 1992 verurteilten Straftäter in der Siche­rungs­ver­wahrung für unzulässig erklärt. Der Gerichtshof stellte in beiden Fällen eine Verletzung von Artikel 7 § 1 (Kein Strafe ohne Gesetz) der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) fest. Insbesondere befand der Gerichtshof, dass die deutschen Gerichte mit der nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung eine schwerere Strafe gegen die Beschwer­de­führer verhängt hatten als die zur Zeit der Begehung ihrer jeweiligen Tat angedrohte.

Beide Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls sind deutsche Staats­an­ge­hörige, geboren 1957 bzw. 1968. Herr K ist derzeit in der JVA Schwalmstadt und Herr G in der JVA Straubing untergebracht. Herr K wurde 1987 wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren und Herr G 1992 wegen Mordes in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.

Landgericht Frankfurt ordnet Unterbringung in Siche­rungs­ver­wahrung an

In beiden Fällen ordneten die Gerichte zusätzlich zu der jeweiligen Freiheitsstrafe die Unterbringung der Beschwer­de­führer in einer psychiatrischen Klinik an. Ihr dortiger Aufenthalt im Anschluss an ihre vollständig verbüßte Freiheitsstrafe wurde jeweils 2007 von den für die Straf­voll­streckung zuständigen Gerichten beendet, die befanden, dass die Beschwer­de­führer nicht an einem Zustand litten, der zu einer verminderten Schuldfähigkeit führe. Anschließend wurden beide Beschwer­de­führer in der Sicherungsverwahrung untergebracht, die das Landgericht Frankfurt am Main im März bzw. April 2008 gemäß § 66 b Abs. 3 StGB anordnete. Diese Bestimmung wurde 2004 in das StGB eingefügt und sieht die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung vor. In beiden Fällen gelangte das Landgericht zu der Auffassung, dass die Gesamtwürdigung der Beschwer­de­führer, ihrer Taten und ergänzend ihrer Entwicklung während der Unterbringung in der psychiatrischen Klinik ergeben hätten, dass sie im Falle ihrer Freilassung mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen würden, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärt Anordnung der Unterbringung in Siche­rungs­ver­wahrung für grund­ge­setz­konform

Die Revision der Beschwer­de­führer vor dem Bundes­ge­richtshof blieb erfolglos. Am 5. August 2009 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, ihre Verfas­sungs­be­schwerden gegen die nachträgliche Anordnung ihrer Siche­rungs­ver­wahrung zur Entscheidung anzunehmen. Insbesondere war das Bundes­ver­fas­sungs­gericht der Auffassung, dass § 66 b Abs. 3 StGB und die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Anordnung der Unterbringung der Beschwer­de­führer in der Siche­rungs­ver­wahrung grund­ge­setz­konform seien.

Die Beschwer­de­führer stellten später Anträge auf Aussetzung ihrer Siche­rungs­ver­wahrung. Beide sind weiterhin in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht.

Beschwer­de­führer verweisen auf Unzulässigkeit der nachträglichen Anordnung zur Unterbringung in Siche­rungs­ver­wahrung

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 7 § 1(Kein Strafe ohne Gesetz) der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) rügten die Beschwer­de­führer die nachträgliche Anordnung und ihre Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung. Die Beschwerde von Herrn K wurde am 16. November 2009 und die Beschwerde von Herrn G am 9. Dezember 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Siche­rungs­ver­wahrung hat nach deutschem Strafrecht im Sinne von Artikel 7 § 1 als Strafe zu gelten

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezog sich auf seine Schluss­fol­ge­rungen in einem früheren Fall, M. gegen Deutschland, in dem er befunden hatte, dass die Siche­rungs­ver­wahrung nach deutschem Strafrecht im Sinne von Artikel 7 § 1 als Strafe zu gelten hat, da sie von Strafgerichten nach der Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wird und einen Freiheitsentzug von unbestimmter Dauer mit sich bringt. Der Gerichtshof sah keinen Anlass, von seinen damaligen Schluss­fol­ge­rungen abzuweichen.

Zwischen Vollzug der Haftstrafe und der Siche­rungs­ver­wahrung bestand kein grundlegender Unterschied

Weiter war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Bedingungen der Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer in der JVA Schwalmstadt, wo Her K noch immer untergebracht ist und Herr G bis zu seiner Verlegung in ein anderes Gefängnis untergebracht war, sich grundlegend von der Lage des Beschwer­de­führers im Fall M. gegen Deutschland unterschieden – dessen Siche­rungs­ver­wahrung im Übrigen in derselben JVA vollzogen worden war. Geringfügige Änderungen bei den Haftbedingungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen dem Vollzug der Haftstrafe und der Siche­rungs­ver­wahrung kein grundlegender Unterschied bestand. Zudem hatte es das deutsche Bundes­ver­fas­sungs­gericht in einem Leiturteil vom 4. Mai 2011 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, dass nach deutschem Strafrecht kein hinreichender Abstand zwischen der Siche­rungs­ver­wahrung und der Strafhaft bestehe.

Anordnung zur Siche­rungs­ver­wahrung stellt neue, zusätzliche und schwerere Strafe im Sinne von Artikel 7 § 1 dar

Der Gerichtshof stimmte dem Argument der Beschwer­de­führer zu, dass die nachträgliche Anordnung ihrer Siche­rungs­ver­wahrung eine neue, zusätzliche und somit schwerere Strafe im Sinne von Artikel 7 § 1 darstellte. Zur jeweiligen Zeit der Begehung ihrer Straftaten, 1985 und 1986 (Herr K) bzw. zwischen 1988 und 1990 (Herr G), war es nicht möglich, die Beschwer­de­führer durch nachträgliche Anordnung in der Siche­rungs­ver­wahrung unterzubringen. Die Bestimmung, auf der ihre Siche­rungs­ver­wahrung beruhte, war erst 2004, mithin viele Jahre nach Begehung ihrer Straftaten in das StGB eingefügt worden.

Deutsche Gerichte hatten zuvor ausdrücklich auf Siche­rungs­ver­wahrung zusätzlich zur Unterbringung in psychiatrischer Klinik verzichtet

In beiden Fällen hatten die zuständigen deutschen Gerichte bei der Verurteilung ausdrücklich darauf verzichtet, die Siche­rungs­ver­wahrung der Beschwer­de­führer zusätzlich zu ihrer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik anzuordnen. Die spätere Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung war durch diese Urteile also nicht abgedeckt. Zudem konnte nach der gefestigten Rechtsprechung der deutschen Gerichte vor der Änderung des StGB im Jahr 2004 eine Person, bei der kein Zustand verminderter Schuldfähigkeit mehr festgestellt wurde, nicht in einer psychiatrischen Klinik untergebracht bleiben und musste freigelassen werden.

Staaten sind durch Konvention weder dazu verpflichtet noch dazu ermächtigt, Einzelpersonen vor Straftaten einer Person zu schützen

Schließlich wies der Gerichtshof das Argument der deutschen Bundesregierung zurück, dass die Freilassung der Beschwer­de­führer die Pflicht der Regierung nach Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) verletzt hätte, potenzielle Opfer vor Mord oder schweren Sexual­straftaten zu schützen, die die Beschwer­de­führer wahrscheinlich begehen würden. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Konvention Staaten weder dazu verpflichtet noch dazu ermächtigt, Einzelpersonen vor Straftaten einer Person zu schützen, indem sie Maßnahmen ergreifen, die selbst gegen die Konven­ti­o­ns­rechte dieser Person verstoßen. Folglich lag in beiden Fällen eine Verletzung von Artikel 7 § 1 vor.

Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet

Nach Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Herrn K 7.000 Euro und Herrn G 5.000 Euro jeweils für den erlittenen immateriellen Schaden und Herrn G 7.140 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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