Beide Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls sind deutsche Staatsangehörige, geboren 1957 bzw. 1968. Herr K ist derzeit in der JVA Schwalmstadt und Herr G in der JVA Straubing untergebracht. Herr K wurde 1987 wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren und Herr G 1992 wegen Mordes in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.
In beiden Fällen ordneten die Gerichte zusätzlich zu der jeweiligen Freiheitsstrafe die Unterbringung der Beschwerdeführer in einer psychiatrischen Klinik an. Ihr dortiger Aufenthalt im Anschluss an ihre vollständig verbüßte Freiheitsstrafe wurde jeweils 2007 von den für die Strafvollstreckung zuständigen Gerichten beendet, die befanden, dass die Beschwerdeführer nicht an einem Zustand litten, der zu einer verminderten Schuldfähigkeit führe. Anschließend wurden beide Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung untergebracht, die das Landgericht Frankfurt am Main im März bzw. April 2008 gemäß § 66 b Abs. 3 StGB anordnete. Diese Bestimmung wurde 2004 in das StGB eingefügt und sieht die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung vor. In beiden Fällen gelangte das Landgericht zu der Auffassung, dass die Gesamtwürdigung der Beschwerdeführer, ihrer Taten und ergänzend ihrer Entwicklung während der Unterbringung in der psychiatrischen Klinik ergeben hätten, dass sie im Falle ihrer Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen würden, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.
Die Revision der Beschwerdeführer vor dem Bundesgerichtshof blieb erfolglos. Am 5. August 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, ihre Verfassungsbeschwerden gegen die nachträgliche Anordnung ihrer Sicherungsverwahrung zur Entscheidung anzunehmen. Insbesondere war das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, dass § 66 b Abs. 3 StGB und die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Anordnung der Unterbringung der Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung grundgesetzkonform seien.
Die Beschwerdeführer stellten später Anträge auf Aussetzung ihrer Sicherungsverwahrung. Beide sind weiterhin in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
Unter Berufung insbesondere auf Artikel 7 § 1(Kein Strafe ohne Gesetz) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) rügten die Beschwerdeführer die nachträgliche Anordnung und ihre Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Die Beschwerde von Herrn K wurde am 16. November 2009 und die Beschwerde von Herrn G am 9. Dezember 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezog sich auf seine Schlussfolgerungen in einem früheren Fall, M. gegen Deutschland, in dem er befunden hatte, dass die Sicherungsverwahrung nach deutschem Strafrecht im Sinne von Artikel 7 § 1 als Strafe zu gelten hat, da sie von Strafgerichten nach der Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wird und einen Freiheitsentzug von unbestimmter Dauer mit sich bringt. Der Gerichtshof sah keinen Anlass, von seinen damaligen Schlussfolgerungen abzuweichen.
Weiter war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Bedingungen der Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer in der JVA Schwalmstadt, wo Her K noch immer untergebracht ist und Herr G bis zu seiner Verlegung in ein anderes Gefängnis untergebracht war, sich grundlegend von der Lage des Beschwerdeführers im Fall M. gegen Deutschland unterschieden – dessen Sicherungsverwahrung im Übrigen in derselben JVA vollzogen worden war. Geringfügige Änderungen bei den Haftbedingungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen dem Vollzug der Haftstrafe und der Sicherungsverwahrung kein grundlegender Unterschied bestand. Zudem hatte es das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Leiturteil vom 4. Mai 2011 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, dass nach deutschem Strafrecht kein hinreichender Abstand zwischen der Sicherungsverwahrung und der Strafhaft bestehe.
Der Gerichtshof stimmte dem Argument der Beschwerdeführer zu, dass die nachträgliche Anordnung ihrer Sicherungsverwahrung eine neue, zusätzliche und somit schwerere Strafe im Sinne von Artikel 7 § 1 darstellte. Zur jeweiligen Zeit der Begehung ihrer Straftaten, 1985 und 1986 (Herr K) bzw. zwischen 1988 und 1990 (Herr G), war es nicht möglich, die Beschwerdeführer durch nachträgliche Anordnung in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. Die Bestimmung, auf der ihre Sicherungsverwahrung beruhte, war erst 2004, mithin viele Jahre nach Begehung ihrer Straftaten in das StGB eingefügt worden.
In beiden Fällen hatten die zuständigen deutschen Gerichte bei der Verurteilung ausdrücklich darauf verzichtet, die Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer zusätzlich zu ihrer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik anzuordnen. Die spätere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung war durch diese Urteile also nicht abgedeckt. Zudem konnte nach der gefestigten Rechtsprechung der deutschen Gerichte vor der Änderung des StGB im Jahr 2004 eine Person, bei der kein Zustand verminderter Schuldfähigkeit mehr festgestellt wurde, nicht in einer psychiatrischen Klinik untergebracht bleiben und musste freigelassen werden.
Schließlich wies der Gerichtshof das Argument der deutschen Bundesregierung zurück, dass die Freilassung der Beschwerdeführer die Pflicht der Regierung nach Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) verletzt hätte, potenzielle Opfer vor Mord oder schweren Sexualstraftaten zu schützen, die die Beschwerdeführer wahrscheinlich begehen würden. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Konvention Staaten weder dazu verpflichtet noch dazu ermächtigt, Einzelpersonen vor Straftaten einer Person zu schützen, indem sie Maßnahmen ergreifen, die selbst gegen die Konventionsrechte dieser Person verstoßen. Folglich lag in beiden Fällen eine Verletzung von Artikel 7 § 1 vor.
Nach Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Herrn K 7.000 Euro und Herrn G 5.000 Euro jeweils für den erlittenen immateriellen Schaden und Herrn G 7.140 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 07.06.2012
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online