21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss30.04.2009

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Ablehnung einer Aussetzung des Restes einer lebenslangen FreiheitsstrafeVollzugs­lo­cke­rungen sind relevant für die Ausset­zungs­ent­scheidung

Das Verhalten eines Gefangen bei Vollzugs­lo­cke­rungen stellt einen wichtigen Indikator für sein Verhalten in Freiheit dar und ist somit relevant für die Ausset­zungs­ent­scheidung. Eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Ablehnung der Aussetzung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe hatte hier vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht Erfolg.

Der 59 Jahre alte Beschwer­de­führer verbüßt wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die Mindest­ver­bü­ßungsdauer von 15 Jahren war Mitte Juni 2008 abgelaufen. Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 19. Juni 2008 hat das Landgericht die Aussetzung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe abgelehnt, da eine Aussetzung angesichts der bislang unterbliebenen Erprobung des Beschwer­de­führers in Vollzugs­lo­cke­rungen mit einem unvertretbar hohen Risiko verbunden sei. Das Oberlan­des­gericht verwarf mit hier angegriffenem Beschluss vom 26. August 2008 die sofortige Beschwerde des Beschwer­de­führers als unbegründet. Seit Anfang Januar 2006 hatte sich der Beschwer­de­führer ohne Erfolg um Vollzugs­lo­cke­rungen bemüht.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe an das Landgericht zurückverwiesen. Die Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG), weil sie auf unzureichender Sachver­halts­auf­klärung beruhen. Die Gerichte haben eine Entlassung des Beschwer­de­führers auf Bewährung unter Hinweis auf seine fehlende Erprobung in Lockerungen abgelehnt, ohne eigenständig zu prüfen, ob die Versagung von Lockerungen durch die JVA rechtmäßig war. Nur wenn die Versagung auf hinreichendem Grund beruht, darf die fehlende Erprobung des Gefangenen bei der Prognose ohne Einschränkungen zu seinem Nachteil verwertet werden.

Vollzugs­lo­cke­rungen haben für die Entscheidung besondere Bedeutung

Maßgeblich für die Entscheidung der Kammer waren folgende Erwägungen:

Ob die Aussetzung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe unter Berück­sich­tigung der Sicher­heits­in­teressen der Allgemeinheit verantwortet werden kann, verlangt den Gerichten eine Progno­se­ent­scheidung ab. Dabei haben sie sich von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis für die Prognose zu bemühen und alle progno­se­re­le­vanten Umstände besonders sorgfältig zu klären. Vollzugs­lo­cke­rungen haben für die Prognose besondere Bedeutung. Die Entscheidung über Lockerungen, die zunächst die Art und Weise des Freiheits­entzugs regeln und damit in erster Linie den Vollzugsalltag des Gefangenen betreffen, obliegt der JVA und ist gerichtlich in einem eigenständigen Rechtszug nach dem Straf­voll­zugs­gesetz nachprüfbar. Vollzugs­lo­cke­rungen haben aber - weitergehend - unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung der Gerichte über die Aussetzung des Strafrestes. Für die Gerichte im Ausset­zungs­ver­fahren erweitert und stabilisiert sich die Prognosebasis, wenn dem Gefangenen zuvor Lockerungen gewährt worden sind: Gerade das Verhalten eines Gefangenen anlässlich solcher Belas­tungs­er­pro­bungen stellt einen geeigneten Indikator für sein Verhalten in Freiheit dar.

Wegen dieser besonderen Bedeutung von Vollzugs­lo­cke­rungen und weil die Verfassung Entscheidungen über die Freiheits­ent­ziehung - zu denen die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zählt - alleine dem Richter anvertraut, dürfen sich die Gerichte im Ausset­zungs­ver­fahren nicht damit abfinden, dass die JVA als Exekutive die Prognosebasis durch eine möglicherweise rechtswidrige Versagung von Lockerungen schmälert und die richterliche Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes auf diesem Wege präjudiziert. Vielmehr haben die zur Entscheidung über die Strafaussetzung berufenen Gerichte eigenständig zu prüfen, ob die Vollzugsbehörde Lockerungen in der Vergangenheit rechtmäßig versagt hat. Dies gilt auch dann, wenn die Frage der Rechtmäßigkeit der Locke­rungs­ver­sagung bereits Gegenstand gerichtlicher Überprüfung nach dem Straf­voll­zugs­gesetz war. Denn die Verfassung vertraut die Entscheidung über die Freiheits­ent­ziehung dem im konkreten Verfahren zur Entscheidung über den Freiheitsentzug berufenen Richter an. Das sind hier alleine die zur Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes berufenen Gerichte. Sie dürfen sich allerdings im Wege einer nachvoll­zie­henden Prüfung - die Gründe rechtskräftiger Gericht­s­ent­schei­dungen im Verfahren nach dem Straf­voll­zugs­gesetz zueigen machen, soweit die Locke­rungs­ver­sagung dort inhaltlich hinreichend überprüft worden ist. Denn auch dann ist sichergestellt, dass das zur Entscheidung über die Aussetzung berufene Gericht volle Verantwortung für die Rechtfertigung der Fortdauer des Freiheits­entzugs übernehmen kann.

Rechtmäßigkeit der Versagung von Lockerungen ungeprüft

Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Das Landgericht hat die Rechtmäßigkeit der Versagung von Lockerungen überhaupt nicht geprüft, sondern lediglich auf die noch nicht abgeschlossene gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Locke­rungs­ver­sagung im Verfahren nach dem Straf­voll­zugs­gesetz verwiesen. Ein solches Vorgehen ist verfas­sungs­rechtlich unhaltbar, auch deshalb, weil sonst Verzögerungen im Verfahren nach dem Straf­voll­zugs­gesetz, die vom Gefangenen nicht zu vertreten sind, ohne sachlichen Grund zu seinem Nachteil auf das Ausset­zungs­ver­fahren durchschlagen könnten. Auch das Oberlan­des­gericht hat die Erfor­der­lichkeit einer inhaltlichen Ausein­an­der­setzung mit der Tragfähigkeit der (bisherigen) Verweigerung von Lockerungen verkannt. Mit dem Hinweis, dass von einer unberechtigten Versagung von Lockerungen deshalb keine Rede sein könne, weil der Beschwer­de­führer mit seinem Verzicht auf eine Rechts­be­schwerde den Rechtsweg im Verfahren nach dem Straf­voll­zugs­gesetz nicht ausgeschöpft habe, schließt das Oberlan­des­gericht die Rechtmäßigkeit der bisherigen Versagung von Lockerungen unzureichend aus der formellen Rechtskraft der die Entscheidung der JVA bestätigenden - mittlerweile ergangenen - erstin­sta­nz­lichen Entscheidung. Dabei wäre wegen - dem Beschwer­de­führer nicht anzulastenden - Verzögerungen im Verfahren nach dem Straf­voll­zugs­gesetz über die Rechts­be­schwerde ohnehin erst nach der - hier angegriffenen - Ausset­zungs­ent­scheidung des Landgerichts entschieden worden.

Spannungs­ver­hältnis zwischen Sicher­heits­be­dürfnis der Allgemeinheit und Freiheits­grundrecht des Gefangenen

Bei rechtswidriger Versagung von Lockerungen über einen progno­se­re­le­vanten Zeitraum sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen vor dem Hintergrund des Spannungs­ver­hält­nisses zwischen dem Sicher­heits­be­dürfnis der Allgemeinheit und dem Freiheits­grundrecht des Gefangenen zu finden. Dies schließt im Einzelfall eine Verwertung des Umstandes fehlender Erprobung verbunden mit dem Hinweis an die Vollzugsbehörde, dass Lockerungen nunmehr geboten sind, ebensowenig aus wie die - bei langen Haftzeiten nur ausnahmsweise in Betracht kommende - sofortige Freilassung, wenn dem Freiheits­grundrecht nur noch auf diesem Wege zum Durchbruch verholfen werden kann. Daneben kommt auch ein Vorgehen nach § 454 a Abs. 1 StPO in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung anordnen, ohne dass dies zur sofortigen Entlassung des Gefangenen führt, indem das Gericht den zukünftigen Entlas­sungs­zeitpunkt so festlegt, dass der Vollzugsbehörde ein angemessener Zeitraum für eine aussagekräftige Erprobung zur Verfügung steht. Dies führt nicht notwen­di­gerweise zu einer unangemessenen Risiko­ver­la­gerung auf die Allgemeinheit, denn das Vollstre­ckungs­gericht kann die Strafaussetzung bis zur Entlassung des Betroffenen wieder aufheben, wenn aufgrund neu eingetretener oder bekannt­ge­wordener Tatsachen - namentlich bei gefähr­lich­keit­sin­di­zie­render Nichtbewährung des Betroffenen in den dann erforderlichen Lockerungen - unter Berück­sich­tigung des Sicher­heits­in­teresses der Allgemeinheit nicht mehr verantwortet werden kann (§ 454 a Abs. 2 StPO). Es ist Sache der Vollstre­ckungs­ge­richte, die im Einzelfall angemessene Reaktion auf ein von der Vollzugsbehörde infolge rechtswidriger Versagung von Lockerungen zu verantwortendes Prognosedefizit zu finden. Diese Reaktion muss sich aber als hinreichend effektiv erweisen. Dies wird das Landgericht bei der neu zu treffenden Ausset­zungs­ent­scheidung zu beachten haben, wenn es aufgrund der - verfas­sungs­rechtlich gebotenen - eigenständigen Prüfung zum Ergebnis kommt, dass Lockerungen seit Januar 2006 ohne hinreichenden Grund unterblieben sind.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 49/09 des BVerfG vom 08.05.09

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