18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen die Silhouette einer Person, welche an einer Wand mit vielen kleinen Bildern vorbeigeht.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss19.07.2017

Verfassungs­beschwerde gegen Zwangs­be­handlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung erfolgreichRechtsgrundlage für medizinische Zwangs­be­handlung im Psychisch­kranken­gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit Grundgesetz unvereinbar und nichtig

Die vom Bundes­verfassungs­gericht zur Zwangs­be­handlung im Maßregelvollzug entwickelten Maßgaben können auch auf die Zwangs­be­handlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung übertragen werden. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und erklärte die Rechtsgrundlage für die medizinische Zwangs­be­handlung im Psychisch­kranken­gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der bis zum 30. Juli 2016 gültigen Fassung für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Juli 2014 wurde die Beschwer­de­führerin in die geschlossene Abteilung eines Klinikums eingewiesen und ihre vorläufige Unterbringung richterlich angeordnet. Das Gericht führte zur Begründung aus, die Beschwer­de­führerin leide an hallu­zi­na­to­rischer Schizophrenie, es bestehe eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für eine Selbst­schä­digung. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwer­de­führerin blieb erfolglos, wobei sie in der Folgezeit rügte, dass das Gericht sich nicht zur Zulässigkeit der - aus ihrer Sicht rechtswidrigen - Zwangs­me­di­kation geäußert habe, die bereits einmal gewaltsam an ihr durchgeführt worden sei. Daraufhin genehmigte das zuständige Amtsgericht auf Grundlage von § 23 des Psychisch­kran­ken­ge­setzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern (PsychKG M-V) "die Verabreichung einer Depotspritze mit dem Medikament Olanzapin Depot (Zypadhera) betreu­ungs­ge­richtlich". Zwar bestünden im Hinblick auf Entscheidungen des Bundes­ge­richtshofs und des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts verfas­sungs­rechtliche Bedenken gegen § 23 PsychKG M-V, und der Gesetzgeber habe eine Anpassung des PsychKG M-V an diese Rechtsprechung erwogen. Dies könne jedoch nicht dazu führen, krank­heits­un­ein­sichtigen geschlossen untergebrachten Patienten die notwendige ärztliche Heilbehandlung zu versagen. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich die Beschwer­de­führerin gegen diesen Beschluss und gegen die medizinische Zwangsbehandlung auf Grundlage von § 23 PsychKG-MV. Diese Vorschrift ist in der Zwischenzeit außer Kraft gesetzt und neu gefasst worden. Ähnliche Vorschriften gibt es aber noch in drei anderen Bundesländern.

Medizinische Zwangs­be­handlung greift in Grundrechte eines Untergebrachten ein

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der angegriffene Beschluss die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Die medizinische Zwangs­be­handlung eines Untergebrachten greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität des Grund­recht­s­trägers und damit auch das diesbezügliche Selbst­be­stim­mungsrecht schützt. Dem Eingriff­s­cha­rakter einer Zwangs­be­handlung steht nicht entgegen, dass sie zum Zweck der Heilung vorgenommen wird.

Zwangs­be­handlung nur auf Grundlage eines Gesetzes zulässig

Die Zwangs­be­handlung eines Untergebrachten ist, wie jeder andere Grund­recht­s­eingriff, nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig, das die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs bestimmt. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat aus den grund­recht­lichen Garantien und aus dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit konkrete Anforderungen an die Rechtsgrundlage für eine Zwangs­be­handlung der im Maßregelvollzug Untergebrachten aufgestellt.

Planmäßigen Behandlungen bedarf vorheriger Ankündigung

Die gesetzliche Grundlage muss strikt die krank­heits­be­dingte Einsichts­un­fä­higkeit des Betroffenen oder dessen Unfähigkeit zu einsichts­gemäßem Verhalten zur Voraussetzung haben. Aus den Grundrechten ergeben sich zudem Anforderungen an das Verfahren, die den Grund­rechts­schutz gewährleisten sollen. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen ist eine Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig um Rechtsschutz zu ersuchen. Zur Wahrung der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist unabdingbar, dass die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangs­be­handlung durch einen Arzt erfolgt. Als Vorwirkung der grund­recht­lichen Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes ergibt sich ferner die Notwendigkeit, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behand­lungs­maß­nahmen, einschließlich ihres Zwang­s­cha­rakters, der Durch­set­zungsweise, der maßgeblichen Gründe und der Wirkungs­über­wachung, zu dokumentieren. Schließlich sind spezielle verfah­rens­mäßige Sicherungen gegen die besonderen situa­ti­o­ns­be­dingten Grund­rechts­ge­fähr­dungen erforderlich, die sich ergeben, wenn über die Anordnung einer Zwangs­be­handlung außerhalb akuter Notfälle allein die jeweilige Unter­brin­gungs­ein­richtung entscheidet. Hierzu bedarf es einer vorausgehenden Prüfung der Maßnahme durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit von der Unter­brin­gungs­ein­richtung.

Medizinische Zwangs­be­handlung darf nur als letztes Mittel vorgesehen sein

Aus dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit folgen darüber hinaus materielle Anforderungen an die Rechtsgrundlage. Die Vorschrift muss den Zweck oder die Zwecke, die einen Eingriff rechtfertigen sollen, abschließend bestimmen. Eine gesetzliche Grundlage zur Durchführung der Zwangs­be­handlung muss ferner festlegen, dass eine solche nur durchgeführt werden darf, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel Erfolg verspricht. Überdies darf eine medizinische Zwangs­be­handlung nur als letztes Mittel vorgesehen sein, wenn mildere Mittel nicht in Betracht kommen. Für eine medikamentöse Zwangs­be­handlung zur Erreichung des Ziels, die Unterbringung möglichst bald zu beenden, bedeutet dies erstens, dass eine weniger eingreifende Behandlung aussichtslos sein muss. Zweitens muss der Zwangs­be­handlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erlangen. Über die Erfordernisse der Geeignetheit und Erfor­der­lichkeit hinaus dürfen mit der Zwangs­be­handlung auch keine Belastungen verbunden sein, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Die Angemessenheit einer Zwangs­be­handlung ist nur gewahrt, wenn, unter Berück­sich­tigung der jeweiligen Wahrschein­lich­keiten, der zu erwartende Nutzen der Behandlung den möglichen Schaden der Nichtbehandlung überwiegt.

Schutzstandard für Zwangs­be­hand­lungen muss in allen Fällen gleich hoch sein

Diese - zur Zwangs­be­handlung im Maßregelvollzug entwickelten - Maßgaben sind auf die Zwangs­be­handlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung zu übertragen. Hierfür fällt entscheidend ins Gewicht, dass es im Hinblick auf den Umfang des Grund­rechts­schutzes keinen Unterschied macht, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Betroffene in der Unterbringung befindet. Der Schutzstandard für die Zwangs­be­handlung muss in allen Fällen gleich hoch sein.

Rechtsgrundlage wird Anforderungen des BVerfG nicht gerecht

§ 23 Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 PsychKG M-V wird den Anforderungen in Bezug auf das Verfahren der Behörden und Gerichte nicht gerecht. Entgegen der verfas­sungs­recht­lichen Vorgabe enthält die Vorschrift keine Regelung dazu, dass die Anordnung und Überwachung der medizinischen Zwangs­be­handlung durch einen Arzt erfolgen muss. Sie erfüllt zudem nicht die verfah­rens­mäßige Vorgabe, dass dem Eingriff eine von der Unter­brin­gungs­ein­richtung unabhängige Prüfung vorausgehen muss. Außerdem fehlt es an der abschließenden Bestimmung des Zwecks oder der Zwecke, die den Eingriff rechtfertigen sollen. Letztlich ist dem Erfordernis, die weiteren aus dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz abzuleitenden Anforderungen einer Zwangs­be­handlung gesetzlich zu konkretisieren, nicht genügt worden. Es fehlt insbesondere an einer angemessenen Regelung, sich vorab um eine auf Vertrauen gegründete, im Rechtssinne freiwillige Zustimmung zu bemühen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss24702

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI