21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss26.07.2016

BVerfG zur Beschränkung ärztlicher Zwangs­be­handlung bei untergebrachten BetreutenBeschränkung der ärztlichen Zwangs­be­handlung mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar

Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Der Gesetzgeber hat die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu schließen. Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei lebens­be­dro­henden Gesund­heits­schäden die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, hat der Senat für stationär behandelte Betreute, die sich einer ärztlichen Zwangs­be­handlung räumlich nicht entziehen können, die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung angeordnet.

Im vorliegenden Fall litte die zwischen­zeitlich verstorbene Betroffene des Ausgangs­ver­fahrens unter einer schizoaf­fektiven Psychose. Sie stand deswegen seit Ende April 2014 unter Betreuung. Anfang September 2014 wurde die Betroffene kurzzeitig in eine Pflege­ein­richtung aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoim­mu­ner­krankung verordneten Medikamente einzunehmen, verweigerte die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Nachdem die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf eine geschlossene Demenzstation in einem Klinikum verlegt worden war, wurde sie auf der Grundlage mehrerer betreu­ungs­ge­richt­licher Beschlüsse im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen medikamentös behandelt. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Betroffene auch an Brustkrebs erkrankt war. Zu diesem Zeitpunkt war sie körperlich bereits stark geschwächt, konnte nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen.

Beantragung ärztlicher Zwangsmaßnahmen entgegen den Willen der Patientin

Geistig war sie in der Lage, ihren natürlichen Willen auszudrücken. Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Daraufhin beantragte die Betreuerin, die Unter­brin­gungs­ge­neh­migung für die Betroffene zu verlängern und ärztliche Zwangsmaßnahmen, insbesondere zur Behandlung des Brustkrebses, zu genehmigen. Das Amtsgericht wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Die Betroffene könne mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht nach § 1906 Abs. 1 BGB freiheits­ent­ziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Die Beschwerde zum Landgericht blieb erfolglos. Auf die Rechts­be­schwerde der Betreuerin hat der Bundes­ge­richtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Entscheidung der Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung vom 18. Februar 2013 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG).

Zulässigkeit der Vorlage

Wesentliche Erwägungen des Senats:

1. Die Vorlage ist zulässig.

a) Das Vorla­ge­ver­fahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dient der Kontrolle konkreter gesetz­ge­be­rischer Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Schlichtes Unterlassen des Gesetzgebers kann nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein. Diese Grundsätze stehen allerdings nicht der Vorlage einer bestimmten Norm mit der Begründung entgegen, dass die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm vermisste Ausgestaltung durch eine konkrete verfas­sungs­rechtliche Schutzpflicht geboten ist.

Klärungs­be­dürfnis auch nach Versterben der Betroffenen

b) Die Vorlage ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass die Betroffene des Ausgangs­ver­fahrens während des Vorla­ge­ver­fahrens verstorben ist. Die auf Rechtsklärung und Befriedung ausgerichtete Funktion der Normenkontrolle kann es rechtfertigen, ausnahmsweise nach einem Ereignis, das regelmäßig zu dessen Erledigung führt, die vorgelegte Frage gleichwohl zu beantworten, wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungs­be­dürfnis fortbesteht. Unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen eines Rechts­schut­z­in­teresses zu bejahen ist, hängt dabei letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab.

Verstoß gegen staatliche Schutzpflicht

2. Es verstößt gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass für Betreute, die keinen freien Willen bilden können, eine medizinisch notwendige Behandlung vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie ihrem natürlichen Willen widerspricht, sie aber nicht freiheits­ent­ziehend untergebracht werden können, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen.

Schutz­pflicht­ver­letzung nur bei fehlenden, unzureichenden oder nicht geeigneten Schutz­vor­keh­rungen feststellbar

a) Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es stellt zugleich eine objektive Wertent­scheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutz­vor­keh­rungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.

Aus allgemeiner Schutzpflicht kann konkrete Schutzpflicht entstehen

Bei Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, verdichtet sich die allgemeine Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht. Der Gesetzgeber muss ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorsehen, die in diesem Sinne die Erfor­der­lichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entge­gen­ste­henden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. Diese Schutzpflicht folgt aus der spezifischen Hilfs­be­dürf­tigkeit der unter Betreuung stehenden Menschen. Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.

Überwiegen der staatlichen Stutzpflicht gegenüber Hilflosen im Verhältnis zum Selbst­be­stim­mungsrecht

b) Ein medizinisches Tätigwerden gegen den natürlichen Willen der Betreuten kollidiert mit deren Selbstbestimmungsrecht und ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Jeder ist nach dem Grundgesetz grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Seine Entscheidung, ob und inwieweit er eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt, muss er nicht an einem Maßstab objektiver Vernünftigkeit ausrichten. Allerdings hat die staatliche Schutzpflicht bei erheblicher Gesund­heits­ge­fährdung einer zum eigenen Schutz selbst nicht fähigen Person besonderes Gewicht. Gehen mit der zur Abwehr der Gefahr notwendigen medizinischen Maßnahme keine besonderen Behand­lungs­risiken einher und gibt es auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Behand­lungs­ver­wei­gerung dem ursprünglichen freien Willen der Betreuten entspricht, ist das Ergebnis der Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten vorgezeichnet. Die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Hilflosen überwiegt dann im Verhältnis zu deren Selbst­be­stim­mungsrecht und ihrer körperlichen Integrität und setzt sich durch.

Vorliegen von materiellen Voraussetzungen bei einer Zwangs­be­handlung

c) Bei der Umsetzung dieser Schutzpflicht verfügt der Gesetzgeber über einen Spielraum zur näheren Ausgestaltung konkreter Schutzmaßnahmen. Ein Spielraum bleibt dem Gesetzgeber insbesondere bei der Ausgestaltung der materiellen Voraussetzungen einer Heilbehandlung und der Verfah­rens­regeln zur Sicherung der Selbstbestimmung und körperlichen Integrität der Betroffenen. Weil sich die konkrete Schutzpflicht im Ergebnis gegenüber dem Selbst­be­stim­mungsrecht und der körperlichen Integrität der Betroffenen durchsetzt, ist der Gesetzgeber im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte Voraussetzungen für eine medizinische Zwangs­be­handlung zu schaffen. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es nicht um die Sicherstellung medizinischen Schutzes nach Maßstäben objektiver Vernünftigkeit geht. Vielmehr ist der freie Wille der Betreuten zu respektieren. Die verfah­rens­recht­lichen Regeln müssen sicherstellen, dass eine medizinische Zwangs­be­handlung nur vorgenommen werden darf, wenn fest steht, dass tatsächlich kein freier Wille der Betreuten vorhanden ist, dem gleichwohl vorhandenen natürlichen Willen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird und dass die materiellen Voraussetzungen einer Zwangs­be­handlung (drohende erhebliche Gesund­heits­be­ein­träch­ti­gungen, nicht zu eingriff­sin­tensive Behandlung, hohe Erfolgs­aus­sichten) nachweisbar vorliegen.

Zwangs­be­handlung im Einklang mit Behin­der­ten­rechts­kon­vention der Vereinten Nationen, der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und der Rechtsprechung des EGMR

d) Die Pflicht des Staates, den eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und sie unter den genannten Voraussetzungen notfalls einer medizinischen Zwangs­be­handlung zu unterziehen, steht auch im Einklang mit der Behin­der­ten­rechts­kon­vention der Vereinten Nationen, der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Ärztliche Zwangs­be­handlung laut Betreuungsrecht des BGB nur für geschlossen untergebrachte Betreute

3. Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht eine ärztliche Zwangs­be­handlung nur für solche Betreute vor, die nach § 1906 Abs. 1 BGB geschlossen untergebracht sind (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB). Der Bundes­ge­richtshof hat in dem Vorla­ge­be­schluss in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass der Gesetzgeber in § 1906 BGB eine Rechtsgrundlage für medizinische Zwangs­be­hand­lungen nur für geschlossen untergebrachte Betreute schaffen wollte und dies in § 1906 BGB eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Damit ist einer - auch verfas­sungs­kon­formen - Auslegung des § 1906 BGB der Weg versperrt, die eine medizinische Zwangs­be­handlung auch ohne freiheits­ent­ziehende Unterbringung zuließe.

Rechtslage für Betreute genügt nicht verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen

In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheits­ent­ziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten, selbst wenn in ihrer Person sämtliche materielle Voraussetzungen einer verfas­sungs­ge­botenen Schutzpflicht zweifelsfrei vorlägen und die verfah­rens­recht­lichen Anforderungen eingehalten werden könnten, nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil. Insoweit genügt die Rechtslage für Betreute nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen.

Fragen im Zusammenhang mit Art. 3 GG bleiben offen

4. Da die Gesetzeslage schon gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstößt, können die sich im Zusammenhang mit Art. 3 GG stellenden Fragen hier offen bleiben. Dies gilt auch für die Frage, ob das Benach­tei­li­gungs­verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt ist, da dieses hier jedenfalls nicht mehr fordert als die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Schutzlücke für Betreute unverzüglich vom Gesetzgeber zu schließen

5. Da kein Verstoß des vorgelegten § 1906 Abs. 3 BGB in seinem derzeitigen Regelungsgehalt gegen das Grundgesetz festgestellt wird, sondern die Nichterfüllung einer konkreten Schutzpflicht des Gesetzgebers für eine bestimmte Personengruppe, genügt es festzustellen, dass dieses Defizit verfas­sungs­widrig ist. Es liegt in der Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers, ob er die Schutzlücke durch Einbeziehung der betroffenen Personengruppe in den § 1906 Abs. 3 BGB unter Verzicht auf eine freiheits­ent­ziehende Unterbringung oder außerhalb dieser Norm gesondert behebt. Der Gesetzgeber hat die festgestellte Schutzlücke für Betreute, die bei einem drohenden erheblichen gesund­heit­lichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, und deshalb notfalls auch auf Schutz durch ärztliche Versorgung gegen ihren natürlichen Willen angewiesen sind, unverzüglich zu schließen.

Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebens­be­dro­henden Gesund­heits­schäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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