18.10.2024
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Dokument-Nr. 21304

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Bundesgerichtshof Beschluss14.07.2015

BGH äußert verfassungs­rechtliche Zweifel an Regelungen zu ärztlichen ZwangsmaßnahmenBundes­ge­richtshof befürchtet Ungleich­be­handlung von Patienten mit und ohne "Weglauftendenz"

Der Bundes­ge­richtshof hält die im Jahre 2013 eingeführten Bestimmungen über ärztliche Zwangsmaßnahmen für teilweise verfas­sungs­widrig und hat sich deshalb im Wege der Richtervorlage an das Bundes­verfassungs­gericht gewandt.

In dem Ausgangs­ver­fahren geht es um eine 63-jährige Betroffene, die unter einer schizoaf­fektiven Psychose leidet und deswegen unter rechtlicher Betreuung steht. Im August 2014 wurde bei ihr eine Autoim­mun­krankheit diagnostiziert, die zu großflächigen Hautausschlägen und massiver Muskelschwäche führte. Im Zuge der Behandlung ergab sich auch der Verdacht auf Brustkrebs. Weitere Untersuchungen bestätigten ein - noch nicht durch­ge­bro­chenes - Mammakarzinom. Die Betroffene hat einer Behandlung der Krebserkrankung widersprochen. Aufgrund ihrer Erkrankung ist sie inzwischen körperlich stark geschwächt und kann weder gehen noch sich selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen.

Betreuerin beantragt Unterbringung der Betroffenen und ärztliche Zwangsmaßnahmen

Die Betreuerin hat beim Betreu­ungs­gericht beantragt, die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung sowie ärztliche Zwangsmaßnahmen zur Behandlung des Brustkrebses (Brustektomie, Brust­be­strahlung, Knochen­ma­rks­punktion zur weiteren Diagnostik) zu genehmigen. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, dass die Tumorerkrankung im Falle der Nichtbehandlung rasch fortschreiten und unausweichlich zu Pflege­be­dürf­tigkeit, Schmerzen und letztlich zum Tod der Betroffenen führen werde. Diese könne aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Notwendigkeit von Unterbringung und Behandlung nicht erkennen und nicht nach dieser Einsicht handeln.

Vorinstanzen verneinen in Betracht kommen einer Unterbringung nach gesetzlichen Vorgaben

Das Amtsgericht hat die beantragten Genehmigungen verweigert, das Landgericht hat die von der Betreuerin namens der Betroffenen hiergegen eingelegte Beschwerde zurückgewiesen. Beide Gerichte haben dies damit begründet, dass eine Unterbringung nach den gesetzlichen Vorgaben nicht in Betracht komme, weil die Betroffene bettlägerig sei und auch keinerlei Weglauf­ten­denzen zeige. Ohne eine geschlossene Unterbringung gestatte das Gesetz aber auch keine ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Mit der Rechts­be­schwerde verfolgt die Betreuerin namens der Betroffenen die Anträge auf Genehmigung der Unterbringung und der Einwilligung in die ärztlichen Zwangsmaßnahmen weiter.

BGH äußert verfas­sungs­rechtliche Zweifel und erbittet Vorab­ent­scheidung des BVerfG

Der Bundes­ge­richtshof hat das Rechts­be­schwer­de­ver­fahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB* mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Er hält das von den Vorinstanzen vertretene Verständnis der einfach­recht­lichen Bestimmungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen zwar für zutreffend. Denn der Geset­zes­wortlaut und der im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren eindeutig zu Tage getretene Wille des Gesetzgebers lassen keine andere Geset­zes­aus­legung zu.

BGH sieht in Ausschluss Betroffener ohne Weglauftendenz von ärztlichen Zwangsmaßnahmen Verstoß gegen Gleichheitssatz

Nach Überzeugung des Gerichts verstößt es aber gegen den Gleichheitssatz, dass eine in stationärem Rahmen erfolgende ärztliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB* (Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, Heilbehandlung oder ärztlicher Eingriff) gegen den natürlichen Willen des Betroffenen nur möglich ist, wenn der Betroffene zivilrechtlich untergebracht ist, nicht jedoch, wenn eine freiheits­ent­ziehende Unterbringung ausscheidet, weil der Betroffene sich der Behandlung räumlich nicht entziehen will und/oder aus körperlichen Gründen nicht kann.

Regelung führt zum nachteiligen Ausschluss Betroffener ohne Weglauftendenz

Bei den Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zivil­recht­lichen Unterbringungen handelt es sich - wie beim gesamten Betreuungsrecht - um Institute des Erwach­se­nen­schutzes als Ausdruck der staatlichen Wohlfahrts­pflege, deren Anlass und Grundlage das öffentliche Interesse an der Fürsorge für den schutz­be­dürftigen Einzelnen ist. Dementsprechend stellen sie sich nicht nur als Grund­recht­s­ein­griffe, sondern vor allem auch als den Betroffenen begünstigende Maßnahmen der staatlichen Fürsorge dar. Ihr Zweck besteht insbesondere darin, den Anspruch des Betroffenen auf Schutz und Behandlung umzusetzen, wenn er krank­heits­bedingt keinen freien Willen bilden kann und sich dadurch erheblich schädigen würde. Dass dies nur mittels schwerwiegender Eingriffe in die Grundrechte des Betroffenen möglich ist, ändert an diesem begünstigenden Charakter nichts. Ein hinreichender Grund, solche Betroffene von der Begünstigung auszuschließen, die sich einer dringend erforderlichen stationären Behandlung zwar verweigern, aber räumlich nicht entziehen wollen und/oder können, besteht nicht. Die Gesetz gewordene gegenteilige Meinung läuft unter anderem darauf hinaus, dass dem noch zum "Weglaufen" Fähigen geholfen werden kann, während etwa derjenige, der aufgrund der Krankheit schon zu schwach für ein räumliches Entfernen ist, auch bei schwersten Erkrankungen seiner Krankheit überlassen bleiben muss.

* § 1906 BGB Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts bei der Unterbringung

Erläuterungen
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheits­ent­ziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil

[...]

2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesund­heit­lichen Schadens eine Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.

[...]

(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn

1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,

2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,

3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesund­heit­lichen Schaden abzuwenden,

4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und

5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beein­träch­ti­gungen deutlich überwiegt. [...]

(3a) Die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts. [...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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