21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.06.2015

Erfordernis einer gerichtlichen Genehmigung in einer Vorsor­ge­vollmacht bei freiheits­be­schränkenden Maßnahmen verfas­sungsgemäßEingriff in das Selbst­be­stim­mungsrecht der Betroffenen aufgrund des staatlichen Schutzauftrags verhältnismäßig

Das Erfordernis einer gerichtlichen Genehmigung für die Einwilligung des Vorsorge­bevoll­mäch­tigten in ärztliche Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen wie z. B. Fixierungen ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und nahm damit eine hiergegen gerichtete Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung an. Im Rahmen der Erteilung einer Vorsor­ge­vollmacht kann nicht wirksam auf das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung verzichtet werden. Der damit verbundene Eingriff in das Selbst­bestimmungs­recht der Betroffenen ist aufgrund des staatlichen Schutzauftrags gerechtfertigt.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die in einem Senio­ren­pfle­geheim untergebrachte Beschwer­de­führerin erteilte im Jahr 2000 eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht an ihren Sohn, der ebenfalls Beschwer­de­führer ist. Im Sommer 2012 erreichte sie die Pflegestufe III. Nachdem die Beschwer­de­führerin mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte ihr Sohn ein, Gitter an ihrem Bett zu befestigen und sie tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren. Das Amtsgericht genehmigte die Einwilligung des Beschwer­de­führers. Die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb vor dem Landgericht und dem Bundes­ge­richtshof ohne Erfolg. Die Beschwerde hatte sich auf eine Formulierung in der Vollmacht gestützt, nach der Entscheidungen "ohne Einschaltung des Vormund­schafts­ge­richts" getroffen werden sollen.

Eingriff in Selbst­be­stim­mungsrecht gerechtfertigt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass durch die fachge­richt­lichen Entscheidungen, die die Genehmigung der Einwilligung in die freiheits­be­schrän­kenden Maßnahmen aussprechen, die beiden Beschwer­de­führer nicht in ihren Grundrechten verletzt werden. Die in § 1906 Abs. 5 BGB festge­schriebene Verpflichtung, vor zusätzlichen Freiheits­be­schrän­kungen trotz Einwilligung der Vorsor­ge­be­voll­mäch­tigten eine gerichtliche Genehmigung der Einwilligung einzuholen, greift zwar in das Selbstbestimmungsrecht der Beschwer­de­führerin aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Recht auf Selbstbestimmung wird jedoch nicht uneingeschränkt, sondern nur im Rahmen der verfas­sungs­mäßigen Ordnung gewährleistet. Bestandteil dieser verfas­sungs­mäßigen Ordnung ist jede Rechtsnorm, die formell und materiell der Verfassung gemäß ist. Diese Voraussetzung erfüllt die angegriffene Vorschrift des § 1906 Abs. 5 BGB.

Entscheidend ist tatsächlicher, natürlicher Wille, nicht Wille eines gesetzlichen Vertreters

Der Staat ist durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbst­be­stimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo die Grund­rechts­be­rech­tigten selbst nicht (mehr) dazu in der Lage sind. Dabei ist einhellig anerkannt, dass es auf den tatsächlichen, natürlichen Willen, nicht auf den Willen eines gesetzlichen Vertreters ankommt und dass fehlende Einsichts- und Geschäfts­fä­higkeit den Schutz nicht von vornherein entfallen lässt. Vielmehr kann sich für Betroffene, denen die Notwendigkeit der Freiheits­be­schränkung nicht mehr näher gebracht werden kann, die durch Dritte vorgenommene Beschränkung als besonders bedrohlich darstellen.

Gerichtliches Geneh­mi­gungs­er­for­dernis bei vorgesehenen Freiheits­be­schrän­kungen entspricht Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten

Insbesondere dieses subjektive Bedroh­lich­keits­emp­finden wird in der konkreten Situation der Freiheits­be­schränkung nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäfts­fä­higkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt haben, die Entscheidung über solche Beschränkungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrau­ens­personen legen zu wollen. Im Hinblick darauf, dass für die grundrechtliche Beurteilung der Schwere des Eingriffs auch das subjektive Empfinden von Bedeutung ist, macht es in diesem konkreten Fall für die Grund­recht­s­trägerin keinen Unterschied, ob ihr Fixierungen zur Beschränkung ihrer Bewegungs­freiheit aufgrund Veranlassung durch einen staatlich bestellten Betreuer oder den Vorsor­ge­be­voll­mäch­tigten angelegt werden sollen. Die Maßnahme stellt sich im konkreten Moment unabhängig von vorangegangenen Einver­ständ­ni­s­er­klä­rungen gleich bedrohlich als Beschränkung der persönlichen Freiheit dar. Es entspricht daher der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber in § 1906 Abs. 5 BGB die Einwilligung des Bevoll­mäch­tigten in derartige Freiheits­be­schrän­kungen unter ein gerichtliches Geneh­mi­gungs­er­for­dernis stellt.

Eingriff in Selbst­be­stim­mungsrecht verhältnismäßig

Der zugleich hierin liegende Eingriff in das Selbst­be­stim­mungsrecht der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 GG ist im Hinblick auf diesen Schutz verhältnismäßig. Das Argument des Beschwer­de­führers, die Neufassung des § 1904 Abs. 4 BGB für den Bereich ärztlicher Maßnahmen gebiete, erst recht bei dem weniger schweren Eingriff nach § 1906 Abs. 5 BGB auf das gerichtliche Geneh­mi­gungs­er­for­dernis zu verzichten, verkennt den unter­schied­lichen Anwen­dungs­bereich dieser Vorschriften. Die nach § 1904 BGB vorzunehmenden Maßnahmen sollen dem Willen der Patienten entsprechen; erst soweit über dessen Inhalt keine Einigkeit erzielt werden kann, ist das Gericht einzuschalten. Demgegenüber soll im Rahmen von § 1906 BGB der jedenfalls noch vorhandene natürliche Wille der Betroffenen überwunden werden. Vor diesem Hintergrund ist die unter­schiedliche Handhabung der Erfor­der­lichkeit des gerichtlichen Geneh­mi­gungs­er­for­der­nisses gerechtfertigt.

Im Nachhinein festgestellter Vollmachts­miss­brauch kann nicht rückgängig gemacht werden

Soweit die Verfas­sungs­be­schwerde auf die Möglichkeit abstellt, einen Kontroll­be­treuer zu bestellen, verkennt sie, dass dies nur einen nachträglichen Schutz gewähren würde. Die gegen den natürlichen Willen der Betroffenen vorzunehmende Freiheits­be­schränkung wäre keiner vorgreiflichen Kontrolle unterworfen, und bei einem im Nachhinein festgestellten Vollmachts­miss­brauch könnten die durchgeführten Maßnahmen nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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