21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Dokument-Nr. 14146

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil12.09.2012

Bundes­ver­fassungs­gericht stimmt Euro-Rettungsschirm und Fiskalpakt unter Auflagen zuAnträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung der Ratifikation von ESM-Vertrag und Fiskalpakt überwiegend erfolglos

Die beim Bundes­ver­fassungs­gericht eingereichten Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung der Ratifikation von ESM-Vertrag und Fiskalpakt waren überwiegend erfolglos. Damit stimmte das Bundes­ver­fassungs­gericht dem Euro-Rettungsschirm und Fiskalpakt zu – jedoch nur unter Einhaltung bestimmter Auflagen.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu entscheiden. Die Anträge sind vor allem darauf gerichtet, dem Bundes­prä­si­denten bis zur Entscheidung über die jeweilige Hauptsache zu untersagen, die am 29. Juni 2012 von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetze auszufertigen und damit die Voraussetzung für die Ratifikation der mit ihnen gebilligten völker­recht­lichen Verträge - des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabi­li­täts­me­cha­nismus (ESM-Vertrag) und des Vertrages über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (so genannter Fiskalvertrag) - zu schaffen.

BVerfG knüpft Bedingungen an Zustimmung zur Ratifizierung des ESM-Vertrages

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Anträge mit der Maßgabe abgelehnt, dass eine Ratifizierung des ESM-Vertrages nur zulässig ist, wenn völkerrechtlich sichergestellt wird, dass 1. durch die in Art. 8 Abs. 5 Satz 1 des ESM-Vertrages (ESMV) geregelte Haftungs­be­schränkung sämtliche Zahlungs­ver­pflich­tungen der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Vertrag der Höhe nach auf ihren Anteil am genehmigten Stammkapital des ESM (190.024.800.000 Euro) begrenzt sind und keine Vorschrift dieses Vertrages so ausgelegt werden darf, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters in den Gremien des ESM höhere Zahlungs­ver­pflich­tungen begründet werden, 2. die Regelungen des ESM-Vertrages über die Unver­letz­lichkeit der Unterlagen des ESM (Art. 32 Abs. 5, Art. 35 Abs. 1 ESMV) und die berufliche Schweigepflicht aller für den ESM tätigen Personen (Art. 34 ESMV) einer umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates nicht entgegenstehen.

Die Bundesrepublik Deutschland muss zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein will, falls sich die von ihr geltend zu machenden Vorbehalte als unwirksam erweisen sollten.

Prüfungsumfang/Zulässigkeit der Hauptsache

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das Gericht hat seine Prüfung in den vorliegenden Eilverfahren - abweichend vom regelmäßigen Prüfungsumfang im Verfahren der einstweiligen Anordnung - nicht auf eine reine Folgenabwägung beschränkt, sondern die angegriffenen Zustim­mungs­gesetze zu den völker­recht­lichen Verträgen einschließlich der Begleit­ge­setz­gebung summarisch daraufhin geprüft, ob die von den Antragstellern zulässigerweise geltend gemachten Rechts­ver­let­zungen vorliegen. Eine summarische Prüfung der Rechtslage war geboten, weil die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifikation der Verträge völker­rechtliche Bindungen eingeht, von denen sie sich, sollten im Haupt­sa­che­ver­fahren Verfas­sungs­verstöße festzustellen sein, nicht mehr ohne weiteres lösen könnte. Ergäbe eine summarische Prüfung im Eilverfahren, dass die behauptete Verletzung des Demokra­tie­gebotes, das Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung festschreibt, mit hoher Wahrschein­lichkeit gegeben ist, läge in der Nichtgewährung einstweiligen Rechtsschutzes ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl. Hierzu könnten die wirtschaft­lichen und politischen Nachteile, die mit einem verzögerten Inkrafttreten der angegriffenen Gesetze verbunden sein könnten, nicht in Abwägung gebracht werden.

Verfahren im Hinblick auf Verletzung des Demokra­tie­prinzips zulässig

Das Gericht hat die Verfahren in der Hauptsache nur insoweit für zulässig erachtet, als die Antragsteller unter Berufung auf Art. 38 GG eine Verletzung der durch das Demokra­tie­prinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 79 Abs. 3 GG) verfas­sungs­rechtlich verankerten haushalts­po­li­tischen Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages geltend machen.

Soweit die Antragsteller im Verfahren 2 BvR 1421/12 gegen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Eurorettung, insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt, einwenden, diese überschritten den Ermäch­ti­gungs­rahmen der deutschen Zustim­mungs­gesetze zu den Unionsverträgen (so genannte „ausbrechende Rechtsakte“), ist ihr entsprechender Feststel­lungs­antrag von dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mit umfasst und bleibt damit einer Prüfung im Haupt­sa­che­ver­fahren vorbehalten.

Prüfungsmaßstab

Wie das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits in der Entscheidung zur Griechen­landhilfe und der Europäischen Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­fa­zilität vom 7. September 2011 festgestellt hat, fordert Art. 38 GG in Verbindung mit dem Demokra­tie­prinzip (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG), dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand als grundlegender Teil der demokratischen Selbst­ge­stal­tungs­fä­higkeit im Verfas­sungsstaat in der Hand des Deutschen Bundestages verbleibt. Auch in einem System inter­gou­ver­ne­mentalen Regierens müssen die Abgeordneten als gewählte Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über fundamentale haushalts­po­li­tische Entscheidungen behalten. Insofern ist es dem Deutschen Bundestag untersagt, finanzwirksame Mechanismen zu begründen, die zu nicht überschaubaren haushalts­be­deutsamen Belastungen ohne erneute konstitutive Zustimmung des Bundestages führen können. Es ist dem Bundestag insoweit auch als Gesetzgeber verwehrt, dauerhafte völker­ver­trags­rechtliche Mechanismen zu etablieren, die auf eine Haftungs­übernahme für Willen­s­ent­schei­dungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausga­ben­wirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Auch bei der Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln muss hinreichender parla­men­ta­rischer Einfluss gesichert sein.

Demokratisch legitimierte Änderung der unions­recht­lichen Stabi­li­täts­vorgaben ist nicht von vornherein als verfas­sungs­widrig anzusehen

Die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages wird auch durch die bisherige vertragliche Ausgestaltung der Währungsunion als Stabi­li­täts­ge­mein­schaft, insbesondere durch die Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), abgesichert. Eine demokratisch legitimierte Änderung der unions­recht­lichen Stabi­li­täts­vorgaben ist jedoch nicht von vornherein verfas­sungs­widrig. Das Grundgesetz gewährleistet nicht den unveränderten Bestand des geltenden Rechts, sondern Strukturen und Verfahren, die auch im Rahmen einer konti­nu­ier­lichen Fortentwicklung der Währungsunion zur Erfüllung des Stabi­li­täts­auftrags den demokratischen Prozess offen halten und dabei die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Parlaments sichern. Die Verpflichtung des Haushalts­ge­setz­gebers auf eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik ist dabei nicht von vornherein demokra­tie­widrig und kann auch auf der Basis des Unions- oder Völkerrechts erfolgen.

Subsumtion

Nach diesen Maßstäben erweisen sich die Anträge als überwiegend unbegründet.

Möglichkeit zur Einrichtung eines ständigen Stabi­li­täts­me­cha­nismus führt nicht zum Verlust der nationalen Haushalts­au­tonomie

Das Zustim­mungs­gesetz zur Einführung von Art. 136 Abs. 3 AEUV beeinträchtigt das Demokratiegebot nicht. Der durch Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 vorgesehene Art. 136 Abs. 3 AEUV ermächtigt zur Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus zur gegenseitigen Hilfeleistung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Damit wird die bisherige Wirtschafts- und Währungsunion zwar insofern umgestaltet, als sie sich von dem die Währungsunion bislang charak­te­ri­sie­renden Prinzip der Eigen­stän­digkeit der nationalen Haushalte löst. Die stabi­li­täts­ge­richtete Ausrichtung der Währungsunion wird dadurch jedoch nicht aufgegeben, weil die wesentlichen Bestandteile der Stabi­li­täts­a­r­chi­tektur, insbesondere die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Haushalts­dis­ziplin und die Eigen­ver­ant­wort­lichkeit der nationalen Haushalte unangetastet bleiben. Die durch Art. 136 Abs. 3 AEUV unionsrechtlich eröffnete Möglichkeit zur Einrichtung eines ständigen Stabi­li­täts­me­cha­nismus führt nicht zu einem Verlust der nationalen Haushalts­au­tonomie, weil der Deutsche Bundestag mit dem hier angegriffenen Zustim­mungs­gesetz noch keine haushalts­po­li­tischen Kompetenzen auf Organe der Europäischen Union oder in ihrem Zusammenhang errichtete Einrichtungen überträgt. Art. 136 Abs. 3 AEUV setzt selbst keinen Stabi­li­sie­rungs­me­cha­nismus ins Werk, sondern eröffnet den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit, einen entsprechenden Mechanismus auf völker­ver­trag­licher Grundlage zu installieren. Das Ratifi­ka­ti­o­ns­er­for­dernis für die Einrichtung des Stabi­li­täts­me­cha­nismus setzt eine Mitwirkung der Gesetz­ge­bungs­organe vor dessen Inkrafttreten voraus.

Das angegriffene Zustim­mungs­gesetz zum ESM-Vertrag trägt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Wahrung der haushalts­po­li­tischen Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages im Wesentlichen Rechnung.

Haftung der Bundesrepublik Deutschland darf nicht ohne Zustimmung des Bundestages über ihren Anteil am genehmigten Stammkapital des ESM hinaus erhöht werden

Es bedarf jedoch im Rahmen des völker­recht­lichen Ratifi­ka­ti­o­ns­ver­fahrens der Sicherstellung, dass die Regelungen des ESM-Vertrages nur so ausgelegt werden, dass die Haftung der Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Zustimmung des Bundestages über ihren Anteil am genehmigten Stammkapital des ESM hinaus erhöht werden kann und die Unterrichtung von Bundestag und Bundesrat nach den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben gewährleistet bleibt. Zwar dürfte die in Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV geregelte ausdrückliche Haftungs­be­schränkung der ESM-Mitglieder auf ihren jeweiligen Anteil am genehmigten Stammkapital die haushalts­wirksamen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit den Aktivitäten des ESM verbindlich auf 190.024.800.000 Euro begrenzen; diese Obergrenze dürfte auch für sämtliche Kapitalabrufe nach Art. 9 ESMV gelten, einschließlich der „revidierten erhöhten“ Kapitalabrufe nach Art. 25 Abs. 2 ESMV, die bei Zahlungsausfall eines ESM-Mitglieds an die verbliebenen leistungs­fähigen Mitgliedstaaten ergehen können und diese entsprechend höher belasten. Nicht ausgeschlossen ist jedoch auch eine Auslegung des ESM-Vertrages dahingehend, dass die ESM-Mitgliedstaaten sich in den Fällen eines revidierten erhöhten Kapitalabrufs nicht auf die Haftungs­o­ber­grenze berufen können, weil Art. 25 Abs. 2 ESMV nach seinem Wortlaut keine höhenmäßige Begrenzung enthält und darauf gerichtet ist, auch in unerwarteten Notsituationen die Bonität des ESM zu sichern und seine Handlungs­fä­higkeit zu erhalten. Zur Wahrung der verfas­sungs­recht­lichen Vorgabe, die haushalts­mäßigen Belastungen klar und abschließend festzulegen, muss die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des ESM-Vertrages daher für die gebotene Klarstellung sorgen und sicherstellen, dass sie an den Vertrag insgesamt nur dann gebunden ist, wenn für sie ohne Zustimmung des Bundestages keine über die Haftungs­o­ber­grenze hinausgehenden Zahlungs­pflichten begründet werden können.

Vertrags­aus­legung muss sicherstellen, dass Bundestag und Bundesrat alle für ihre Willensbildung erforderlichen umfassenden Informationen erhalten

Eines solchen Vorbehalts im Ratifi­ka­ti­o­ns­ver­fahren bedarf es auch hinsichtlich der Regelungen des ESM-Vertrages über die Unver­letz­lichkeit der Unterlagen des ESM (Art. 32 Abs. 5, Art. 35 Abs. 1 ESMV) und die berufliche Schweigepflicht der Organmitglieder des ESM und aller für den ESM tätigen Personen (Art. 34 ESMV). Es spricht zwar viel dafür, dass diese Regelungen vor allem Infor­ma­ti­o­ns­flüsse an unberechtigte Dritte, etwa Beteiligte am Kapitalmarkt, unterbinden wollen, nicht jedoch an die Parlamente der Mitgliedstaaten, die die auf dem ESM-Vertrag beruhenden Bindungen auch im weiteren Vertragsvollzug gegenüber ihren Bürgern verantworten müssen. Da die Bestimmungen jedoch keine ausdrückliche Regelung zur Information des ESM gegenüber den nationalen Parlamenten enthalten, ist angesichts der unter­schied­lichen Verfas­sungs­rechtslage zu den Beteiligungs- und Infor­ma­ti­o­ns­rechten des Parlaments in den Mitgliedstaaten auch eine Auslegung denkbar, die einer hinreichenden parla­men­ta­rischen Kontrolle des ESM durch den Deutschen Bundestag entgegenstünde. Eine Ratifikation des ESM-Vertrages ist daher nur zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland eine Vertrags­aus­legung sicherstellt, die gewährleistet, dass Bundestag und Bundesrat bei ihren Entscheidungen die für ihre Willensbildung erforderlichen umfassenden Informationen erhalten.

Bestimmungen des ESM-Vertrages bei summarischer Prüfung nicht zu beanstanden

Im Übrigen sind die Bestimmungen des ESM-Vertrages bei summarischer Prüfung nicht zu beanstanden. Die Regelung des Art. 4 Abs. 8 ESMV, wonach sämtliche Stimmrechte eines Mitgliedstaates ausgesetzt werden, wenn dieser seinen Einzah­lungs­pflichten gegenüber dem ESM nicht vollumfänglich nachkommt, ist zwar im Hinblick auf ihre potentiell weitreichenden Folgen unter dem Gesichtspunkt der haushalts­po­li­tischen Gesamt­ver­ant­wortung nicht unproblematisch, da der betroffene Mitgliedstaat für die Dauer seiner Säumnis keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungen des ESM besitzt. Damit liefe die innerstaatlich vorgesehene Beteiligung des Bundestages an den Entscheidungen des deutschen Vertreters in den Organen des ESM leer und wäre der Legiti­ma­ti­o­ns­zu­sam­menhang zwischen Parlament und ESM für diesen Zeitraum unterbrochen. Die Regelung verletzt die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestages jedoch nicht, weil dieser dafür Sorge tragen kann und muss, dass es nicht zu einer Aussetzung der deutschen Stimmrechte kommt. Er hat insoweit die haushalts­recht­lichen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die deutschen Anteile am genehmigten Stammkapital des ESM jederzeit fristgerecht und vollständig eingezahlt werden können.

Haushalts­wirt­schaftliche Belas­tungs­grenze durch übernommene Gewähr­leis­tungen nicht überschritten

Des Weiteren kann nicht festgestellt werden, dass die Höhe der mit der Beteiligung am ESM übernommenen Gewähr­leis­tungen im Gesamtnennwert von 190.024.800.000 Euro die haushalts­wirt­schaftliche Belas­tungs­grenze derart überschreitet, dass die Haushalts­au­tonomie praktisch vollständig leerliefe. Dies gilt auch unter Berück­sich­tigung des deutschen Gesam­ten­ga­gements für die Stabilisierung der Europäischen Währungs­ge­mein­schaft. Dem Gesetzgeber kommt bei der Prüfung, ob der Umfang von Zahlungs­ver­pflich­tungen und Haftungszusagen zu einer Entäußerung der Haushalts­au­tonomie des Bundestages führt, ein weiter Einschät­zungs­spielraum zu, der auch die Abschätzung des künftigen wirtschaft­lichen Leistungs­ver­mögens der Bundesrepublik Deutschland umfasst, einschließlich der Berück­sich­tigung der Folgen alternativer Handlungs­op­tionen. Die Beurteilung des Gesetzgebers, dass mit der Zurver­fü­gung­s­tellung der deutschen Anteile am Europäischen Stabi­li­täts­me­cha­nismus noch überschaubare Risiken eingegangen würden, während ohne die Gewährung von Finanzhilfen durch den ESM nicht absehbare, schwerwiegende Konsequenzen für das gesamte Wirtschafts- und Sozialsystem drohten, überschreitet seinen Einschät­zungs­spielraum nicht und ist vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht daher hinzunehmen.

Keine verfas­sungs­widrige Staats­fi­nan­zierung durch Europäische Zentralbank

Gegen den ESM-Vertrag selbst kann auch nicht eingewandt werden, dass der ESM zum Vehikel einer verfas­sungs­widrigen Staats­fi­nan­zierung durch die Europäische Zentralbank werden könnte. Da eine Aufnahme von Kapital durch den ESM bei der Europäischen Zentralbank allein oder in Verbindung mit der Hinterlegung von Staatsanleihen mit dem in Art. 123 AEUV verankerten Verbot monetärer Haushalts­fi­nan­zierung nicht vereinbar wäre, kann der Vertrag nur so verstanden werden, dass er derartige Anlei­he­ope­ra­tionen nicht zulässt. Der Europäische Stabi­li­täts­me­cha­nismus unterfällt den in Art. 123 Abs. 1 AEUV genannten Institutionen, an welche keine Kredite durch die Europäische Zentralbank vergeben werden dürfen. Auch eine Hinterlegung von Staatsanleihen durch den ESM bei der Europäischen Zentralbank als Sicherheit für Kredite würde gegen das Verbot unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Stellen verstoßen. Dabei kann offen bleiben, ob hierin eine Übernahme von Schuldtiteln direkt vom öffentlichen Emittenten am Primärmarkt läge oder nach dem Zwischenerwerb durch den ESM einem Erwerb am Sekundärmarkt entspräche. Denn ein Erwerb von Staatsanleihen am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank, der auf eine von den Kapitalmärkten unabhängige Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zielte, ist als Umgehung des Verbotes monetärer Haushalts­fi­nan­zierung ebenfalls untersagt. Inwieweit das vom Rat der Europäischen Zentralbank am 6. September 2012 beschlossene Programm über den Ankauf von Staatsanleihen finanzschwacher Euro-Staaten diesen rechtlichen Vorgaben entspricht, war im vorliegenden Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, das sich ausschließlich auf die Zustim­mungs­gesetze zum ESM-Vertrag und zum Fiskalpakt sowie die entsprechenden Begleitgesetze bezieht, nicht zu entscheiden.

Vorschriften über Einbindung des Deutschen Bundestages in Entschei­dungs­prozesse des ESM genügen Anforderungen an innerstaatliche Absicherung des Demokra­tie­prinzips

Auch die sich aus dem Zustim­mungs­gesetz zum ESM-Vertrag und dem ESM-Finan­zie­rungs­gesetz (ESMFinG) ergebenden Vorschriften über die Einbindung des Deutschen Bundestages in die Entschei­dungs­prozesse des ESM genügen im Wesentlichen den Anforderungen an die innerstaatliche Absicherung des Demokra­tie­prinzips. Dies gilt sowohl für die Ausgestaltung der Mitwir­kungs­rechte des Deutschen Bundestages als auch im Hinblick auf seine Infor­ma­ti­o­ns­rechte und die personelle Legitimation der deutschen Vertreter in den Organen des ESM. Diese haben an den Sitzungen der Organe des ESM teilzunehmen und die Beschlüsse des Deutschen Bundestages umzusetzen. Das ESM-Finan­zie­rungs­gesetz setzt voraus, dass die deutschen Vertreter an die Beschlüsse des Bundestages gebunden und ihm gegenüber rechen­schafts­pflichtig sind.

Zwar ist fraglich, ob die verfas­sungs­rechtlich gebotene Mitwirkung des Bundestages auch hinsichtlich der Ausgabe von Anteilen am Stammkapital des ESM über dem Nennwert (Art. 8 Abs. 2 Satz 4 ESMV) innerstaatlich hinreichend geregelt ist oder ob es insoweit im Hinblick auf die möglichen weitreichenden Wirkungen auf den Bundeshaushalt - ebenso wie für die Erhöhung des Stammkapitals des ESM - einer ausdrücklichen bundes­ge­setz­lichen Ermächtigung bedarf. Da bei verfas­sungs­kon­former Auslegung des § 4 Abs. 1 ESMFinG die Zustimmung zu einer Anteilsausgabe über dem Nennwert dem Plenum des Bundestages vorbehalten ist, bedarf es insoweit jedoch nicht des Erlasses einer einstweiligen Anordnung.

Dem Haushalts­aus­schuss zugewiesene Befugnisse sind wegen ihrer Tragweite möglicherweise vom Plenum wahrzunehmen

Bei der Zuordnung der Betei­li­gungs­rechte zu Plenum, Haushalts­aus­schuss und Sondergremium hat sich der Gesetzgeber an den Kriterien orientiert, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in seinem Urteil vom 28. Februar 2012 benannt hat. Es erscheint allerdings nicht ausgeschlossen, dass das ESM-Finan­zie­rungs­gesetz dem Haushalts­aus­schuss Befugnisse zuweist, die wegen ihrer Tragweite vom Plenum wahrzunehmen sind, etwa Entscheidungen über wesentliche Änderungen des Verfahrens und der Bedingungen der Kapitalabrufe des ESM. Einer einstweiligen Anordnung bedarf es indes insoweit ebenfalls nicht. Denn das Plenum des Deutschen Bundestags kann Bedenken gegen die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Zuordnung von Betei­li­gungs­rechten an den Haushalts­aus­schuss jederzeit dadurch begegnen, dass es in Ausübung seines Rückholrechts nach § 5 Abs. 5 ESMFinG die Befugnisse des Haushalts­aus­schusses an sich zieht.

Keine Verletzung der haushalts­po­li­tischen Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages

Das Zustim­mungs­gesetz zum so genannten Fiskalvertrag (SKSV) verletzt nicht die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages. Der Regelungsgehalt des Vertrages, dessen Ziel die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion durch die Förderung der Haushalts­dis­ziplin ist, deckt sich weitgehend mit den bereits bestehenden Vorgaben der „Schuldenbremse“ des Grundgesetzes (Art. 109, 115 und 143d GG) und den haushaltss­pe­zi­fischen Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Insbesondere ist die Verpflichtung der Vertragsstaaten nach Art. 5 Abs. 1 SKSV, bei übermäßigem Haushalts­defizit ein geneh­mi­gungs­be­dürftiges Haushalts- und Wirtschafts­part­ner­schafts­programm vorzulegen, in das bereits primärrechtlich geregelte Defizit­ver­fahren (Art. 126 AEUV) eingefügt. Ein unmittelbarer „Durchgriff“ der Organe der Europäischen Union auf die nationale Haushalts­ge­setz­gebung ist nicht vorgesehen.

Teilweise Übertragung der Budget­ver­ant­wortung auf die Europäische Kommission von vornherein ausgeschlossen

Der Fiskalvertrag räumt den Organen der Europäischen Union auch keine Befugnisse ein, die die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages berühren. Soweit von den Vertragsstaaten für Fälle erheblicher Abweichungen vom mittelfristigen Ziel der Vorlage eines ausgeglichenen Haushalts auf nationaler Ebene ein so genannter Korrek­tur­me­cha­nismus einzurichten ist und sie sich dabei auf die von der Europäischen Kommission vorzu­schla­genden Grundsätze zu stützen haben (Art. 3 Abs. 2 SKSV), betrifft diese Bestimmung lediglich institutionelle, nicht aber konkrete materielle Vorgaben für die Gestaltung der Haushalte. Die Regelung stellt vielmehr ausdrücklich klar, dass die Vorrechte der nationalen Parlamente gewahrt bleiben müssen und schließt damit eine teilweise Übertragung der Budget­ver­ant­wortung auf die Europäische Kommission von vornherein aus. Auch die Zuständigkeiten des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach Art. 8 Abs. 1 SKSV mit einer Verletzung der Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 2 SKSV befasst werden kann, greifen nicht in die konkrete Gestal­tungs­freiheit des nationalen Haushalts­ge­setz­gebers ein.

Schließlich geht die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifikation des Fiskalvertrages auch keine irreversible Bindung an eine bestimmte Haushalts­politik ein. Der Vertrag sieht zwar kein Austritts- oder Kündigungsrecht für die Vertragsstaaten vor. Es ist jedoch völker­ge­wohn­heits­rechtlich anerkannt, dass der einvernehmliche Austritt aus einem Vertrag immer, ein einseitiger Austritt jedenfalls bei einer grundlegenden Veränderung der bei Vertragsschluss maßgeblichen Umstände möglich ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil14146

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI