18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.10.2011

„Euro-Rettungsschirm“: Vorläufig keine Übertragung der Betei­li­gungs­rechte des Bundestages auf 9-er SondergremiumBundes­ver­fas­sungs­gericht stoppt vorerst EFSF-Sondergremium zur Euro-Rettung

Das neue so genannte 9-er Sondergremium des Bundestages darf vorerst nicht in Fällen besonderer Eilbe­dürf­tigkeit im Hinblick auf Notmaßnahmen zur Euro-Rettung entscheiden. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht und gab mit seiner einstweiligen Anordnung dem Antrag von Abgeordneten des Deutschen Bundestages statt, die sich durch die Delegation der parla­men­ta­rischen Haushalts­ver­ant­wortung auf das 9-er Sondergremium in ihrem Abgeord­ne­ten­status verletzt sahen.

Als Reaktion auf die Staats­schul­denkrise im Gebiet der Europäischen Währungsunion schufen deren Mitgliedstaaten den „Euro-Rettungsschirm“, in dessen Rahmen eine privatrechtlich organisierte Zweck­ge­sell­schaft, die Europäische Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­fa­zilität (EFSF) gegründet worden ist. Diese Zweck­ge­sell­schaft erhält Garantien von den Euro-Mitgliedstaaten, um die Mittel an den Kapitalmärkten aufzunehmen, die sie für überschuldete Mitgliedstaaten bereitstellt. Mit dem Gesetz zur Übernahme von Gewähr­leis­tungen im Rahmen eines europäischen Stabi­li­sie­rungs­me­cha­nismus (Stabi­li­sie­rungs­me­cha­nis­mus­gesetz - StabMechG) vom 22. Mai 2010 legte der Bundes­ge­setzgeber auf nationaler Ebene die Voraussetzungen für die Leistung finanziellen Beistands fest.

Mitglieds­s­taaten beschließen EFSF zur Bewältigung der Staats­schul­denkrise mit weiteren, flexibleren Instrumenten auszustatten

Im Mai/Juli 2011 kamen die Mitgliedstaaten überein, die vereinbarte maximale Darle­hens­ka­pazität der EFSF von 440 Milliarden Euro in vollem Umfang bereitzustellen und die EFSF mit weiteren, flexibleren Instrumenten zur Bewältigung der Staats­schul­denkrise und der gestiegenen Anste­ckungs­ge­fahren unter den Euro-Mitgliedstaaten auszustatten. Die europäischen Vereinbarungen wurden in Deutschland durch das am 14. Oktober 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des Stabi­li­sie­rungs­me­cha­nis­mus­ge­setzes umgesetzt, das nunmehr einen auf rund 211 Milliarden Euro erhöhten Gewähr­leis­tungs­rahmen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht, die erweiterten Instrumente der EFSF definiert und die Voraussetzungen ihres Einsatzes festlegt.

Neuregelung der Betei­li­gungs­rechte des Bundestages

Zudem wurden die Betei­li­gungs­rechte des Bundestages neu geregelt. Danach bedürfen Entscheidungen des deutschen Vertreters in der EFSF grundsätzlich der Zustimmung des Bundestages. In Fällen besonderer Eilbe­dürf­tigkeit und Vertraulichkeit soll dieses Betei­li­gungsrecht jedoch gemäß § 3 Abs. 3 StabMechG von einem neu zu schaffenden Gremium ausgeübt werden, deren Mitglieder aus den gegenwärtig 41 Mitgliedern des Haushalts­aus­schusses zu wählen sind. Bei Notmaßnahmen zur Verhinderung von Anste­ckungs­ge­fahren soll nach der Neuregelung regelmäßig besondere Eilbe­dürf­tigkeit oder Vertraulichkeit vorliegen. In allen übrigen Fällen kann beides von der Bundesregierung geltend gemacht werden. Hiergegen steht dem Haushalts­aus­schuss ein Wider­spruchsrecht zu, das nur mit Mehrheit ausgeübt werden kann, um wieder eine Zustim­mungs­kom­petenz des gesamten Bundestages zu erreichen. Darüber hinaus können nach § 5 Abs. 7 StabMechG die Unter­rich­tungs­rechte des Bundestages auf das Gremium übertragen werden.

Am 26. Oktober 2011 hat der Bundestag die neun Mitglieder des Gremiums gewählt (so genanntes 9-er Sondergremium).

Abgeordnete des Deutschen Bundestages sehen sich durch Delegation auf 9-er Sondergremium in Abgeord­ne­ten­status verletzt

Die Antragsteller sind Abgeordnete des Deutschen Bundestages und wenden sich im Wege des Organ­streit­ver­fahrens verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die mit der Geset­ze­s­än­derung eingeführte Neuregelung der Beteiligung des Bundestages. Sie sehen sich durch die Delegation der parla­men­ta­rischen Haushalts­ver­ant­wortung auf das 9-er Sondergremium in ihrem Abgeord­ne­ten­status gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

Betei­li­gungs­rechte des Bundestages dürfen vorerst nicht durch neues Gremium wahrgenommen werden

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat im Wege der einstweiligen Anordnung entschieden, dass bis zur Entscheidung im Organ­streit­ver­fahren die Betei­li­gungs­rechte des Bundestages nicht durch das neu konstituierte Gremium wahrgenommen werden dürfen.

Vorläufige Nichtausübung der Mitwirkungs- und Unter­rich­tungs­rechte durch Sondergremium führt nicht zu Handlungs­un­fä­higkeit der Bundesregierung

Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Folgenabwägung ergibt, dass den Antragstellern gewichtige Nachteile entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge und sich das Organ­streit­ver­fahren später als begründet erwiese. Sie könnten zwischen­zeitlich in ihren Statusrechten als Abgeordnete aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG irreversibel verletzt werden. Denn bis zur Entscheidung in der Hauptsache könnte das Sondergremium Entscheidungen treffen, die die Statusrechte der Antragsteller im Hinblick auf die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestages berühren, so etwa indem es die Zustimmung zu einer Notmaßnahme der EFSF auf Antrag eines Mitgliedstaates der Euro-Zone erteilte. Diese mögliche Rechts­ver­letzung wäre durch eine Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts in der Hauptsache nicht mehr rückgängig zu machen, da die Bundesrepublik Deutschland nach erfolgter Zustimmung völkerrechtlich bindende Verpflichtungen eingegangen wäre. Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstünden, wenn das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die begehrte einstweilige Anordnung erließe, in der Hauptsache aber dem Antrag im Organ­streit­ver­fahren der Erfolg zu versagen wäre. Die Nichtausübung der Mitwirkungs- und Unter­rich­tungs­rechte durch das Sondergremium bis zur Haupt­sa­cheent­scheidung führte nicht dazu, dass die erforderliche Handlungs­fä­higkeit der Bundesregierung in diesem Zeitraum nicht gewährleistet wäre. Vielmehr kann die Bundesregierung jederzeit notwendige Zustimmungen gegenüber dem Deutschen Bundestag beantragen, über die dann das Plenum entscheidet.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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