22.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil09.12.2008

BVerfG: Kürzung der "Pendler­pau­schale" ist verfas­sungs­widrigPauschale gilt wieder ab erstem Kilometer

Die Anfang 2007 von der Großen Koalition eingeführte Kürzung der Pendler­pau­schale ist verfas­sungs­widrig. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Die gekürzte Pendler­pau­schale konnte seit dem 1.1.2007 erst ab dem 21. Kilometer steuermindernd geltend gemacht werden. Dies verstößt gegen den Grundsatz der Gleich­be­handlung.

Die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte konnten bis zum Jahr 2006 als Werbungskosten nach § 9 EStG oder als Betrie­bs­ausgaben nach § 4 EStG bei den einkom­men­steu­er­pflichtigen Einkünften abgezogen werden. Dies geschah grundsätzlich in Form einer von tatsächlich entstandenen Kosten unabhängigen Pauschale je Arbeitstag in Höhe von zuletzt ,30 € pro Entfer­nungs­ki­lometer (Entfer­nungs­pau­schale, sog. Pendler­pau­schale). Mit Wirkung ab 2007 bestimmte der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 EStG (entsprechend auch in § 4 Abs. 5a EStG), dass die Aufwendungen für die Wege zur regelmäßigen Arbeitsstätte keine Werbungskosten sind (Satz 1), dass aber "zur Abgeltung erhöhter Aufwendungen" für Fahrten ab dem 21. Entfer­nungs­ki­lometer eine Pauschale von ,30 € "wie Werbungskosten" anzusetzen ist (Satz 2). Die grundsätzliche Einführung des sog. Werkstor­prinzips nach Satz 1 wurde im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren mit dem Ziel notwendiger Konsolidierung des übermäßig verschuldeten Staatshaushalts (durch erwartete jährliche Mehreinnahmen von rund 2,53 Mrd €) begründet, die verbliebene Abzugsfähigkeit der erhöhten Aufwendungen für längere Wegstrecken als ergänzende Härte­fa­ll­re­gelung.

Mehrere Gerichte legten dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vor

Auf die Vorlagen der Finanzgerichte Niedersachsens (Nieder­säch­sisches Finanzgericht, Beschluss v. 27.02.2007 - 8 K 549/06 -) und des Saarlandes (Finanzgericht des Saarlandes, Beschluss v. 22.03.2007 - 2 K 2442/06 -) sowie des Bundes­fi­nanzhofs (Bundesfinanzhof, Beschluss v. 10.01.2008 - VI R 17/07 -) entschied der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, dass diese Neuregelungen mangels verfas­sungs­rechtlich tragfähiger Begründung mit den Anforderungen des allgemeinen Gleich­heits­satzes des Art. 3 Abs. 1 GG an eine folgerichtige Ausgestaltung einkom­men­steu­er­recht­licher Belas­tungs­ent­schei­dungen nicht vereinbar und verfassungswidrig sind. Der Gesetzgeber ist danach verpflichtet, rückwirkend auf den 1. Januar 2007 die Verfassungswidrigkeit durch Umgestaltung der Rechtslage zu beseitigen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung ist die Pauschale des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG - vorläufig - ohne die Beschränkung auf Entfernungen erst ab dem 21. Kilometer anzuwenden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Gleichheitssatz verletzt

1. Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes verlangt vom Einkom­men­steu­er­ge­setzgeber eine an der finanziellen Leistungs­fä­higkeit ausgerichtete hinreichend folgerichtige Ausgestaltung seiner Belas­tungs­ent­schei­dungen. Nach dem geltenden Einkom­men­steu­errecht wird die finanzielle Leistungs­fä­higkeit des Steuer­pflichtigen grundsätzlich nach der Höhe seines jährlichen Nettoeinkommens bemessen, d.h., nach der Höhe der Einnahmen abzüglich beruflich bzw. betrieblich veranlasster Aufwendungen (sog. objektives Nettoprinzip) sowie abzüglich weiterer, nicht beruflich, sondern privat veranlasster Aufwendungen, insbesondere abzüglich der Aufwendungen für das Existenzminimum des Steuer­pflichtigen und seiner unter­halts­be­rech­tigten Familien­an­ger­hörigen (sog. subjektives Nettoprinzip). Entscheidend für die steuermindernde Abzugsfähigkeit von Aufwendungen ist danach grundsätzlich deren jeweiliger Veran­las­sungs­zu­sam­menhang.

Koalition führte sog. Werkstorprinzip ein

Die Einführung des sog. Werkstor­prinzips, nach dem nicht die berufliche oder private Veranlassung von Aufwendungen, sondern allein die räumliche Entfernung einer kosten­ver­ur­sa­chenden Fahrt zum Arbeitsplatz entscheidend für Abzugsfähigkeit oder Nicht­ab­zugs­fä­higkeit der Kosten ist, stellt eine singuläre Ausnahme innerhalb des geltenden Einkom­men­steu­er­rechts dar. Sie ist am Maßstab folgerichtiger Ausgestaltung einer Besteuerung nach dem Prinzip der finanziellen Leistungs­fä­higkeit zu beurteilen. Das Erfordernis folgerichtiger Ausgestaltung der einkom­men­steu­er­recht­lichen Belas­tungs­ent­schei­dungen verlangt, dass Ausnahmen von den das einfache geltende Recht beherrschenden Prinzipien hinreichend begründet sind. Als solche hinreichenden Gründe sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts bisher außer­fis­ka­lische Förderungs- und Lenkungsziele sowie Typisierungs- und Verein­fa­chungs­er­for­dernisse anerkannt, nicht jedoch der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnah­me­n­er­höhung. Hieran hält der Zweite Senat vorliegend fest.

Neuregelung fehlt eine hinreichende sachliche Begründung

Der Neuregelung fehlt danach eine hinreichende sachliche Begründung für die Abkehr vom Veran­las­sungs­prinzip bei der Abgrenzung der einkom­men­steu­er­recht­lichen Bemes­sungs­grundlage (2.). Der Gesetzgeber ist von den Anforderungen an einkom­men­steu­er­rechtliche Folge­rich­tigkeit auch nicht mit Blick auf die Möglichkeiten eines verfas­sungs­kon­formen "Systemwechsels" oder einer neuen "Zuord­nungs­ent­scheidung" befreit (3.).

Ziel der Haushalts­kon­so­li­dierung reicht für Rechtfertigung der Neuregelung nicht aus

2. Das im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren fast ausschließlich angeführte Ziel der Haushalts­kon­so­li­dierung kann trotz aller auch verfas­sungs­recht­lichen Dringlichkeit für sich genommen die Neuregelung nicht rechtfertigen, denn es geht bei der Abgrenzung der steuerlichen Bemes­sungs­grundlage um die gerechte Verteilung von Steuerlasten. Hierfür kann die staatliche Einnah­men­ver­mehrung jedoch kein Richtmaß bieten, denn diesem Ziel dient jede, auch eine willkürliche Mehrbelastung.

Förderungs- und Lenkungsziele

Förderungs- und Lenkungsziele sind nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts nur dann als Recht­fer­ti­gungsgrund für eine Steuerbelastung geeignet, wenn sie von erkennbaren Entscheidungen des Gesetzgebers getragen sind. Zwar wird eine Abschaffung der "Pendler­pau­schale" von namhaften Vertretern der Wirtschafts- und Finan­z­wis­sen­schaften im Interesse steuerlicher Anreize zu gesamt­wirt­schaftlich effizientem Verhalten der Steuer­pflichtigen gefordert; der Gesetzgeber hat sich jedoch solche Ziele ausweislich der Materialien zum Gesetz­ge­bungs­ver­fahren zu keinem Zeitpunkt zu eigen gemacht, so dass schon aus diesem Grund eine derartige Rechtfertigung ausscheidet.

Typisierungs- und Verein­fa­chungs­zwecke sind keine ausreichende Gründe für Neuregelung

Auch Typisierungs- und Verein­fa­chungs­zwecke liefern keine tragfähige Begründung. Zwar ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass es sich bei den Fahrtkosten um - privat und beruflich - "gemischt" veranlasste Aufwendungen handelt, für deren angemessene einkom­men­steu­er­rechtliche Bewertung und Einordnung erhebliche Typisierungs- und Verein­fa­chungs­spielräume eröffnet sind. Es handelt sich bei der Neuregelung jedoch nicht um eine typisierende Bewertung und Erfassung des unter­schied­lichen Gewichts der privaten und beruflichen Anteile an der Kosten­ver­an­lassung, sondern um eine ausschließlich quantitativ am Ergebnis eines erhöhten Steuer­auf­kommens orientierte Tatbe­stand­s­ab­grenzung. Die zusätzliche Belastung durch Wegekosten für Entfernungen bis zu 20 km kann mangels einer korre­spon­die­renden Abstimmung der Höhe des allgemeinen Arbeitnehmer-Pauschbetrags auch nicht unter Hinweis auf diesen allgemeinen Pauschbetrag "hinwegtypisiert" werden.

Kein "befreiender" grundlegender Systemwechsel

3. Schließlich fehlt es auch an einem den Gesetzgeber "befreienden" grundlegenden Systemwechsel oder einer neuen Zuord­nungs­ent­scheidung. Die dem Steuer­ge­setzgeber zustehende Gestal­tungs­freiheit umfasst zwar von Verfassungs wegen auch die Befugnis, neue Regeln ohne Bindung durch Grundsätze der Folge­rich­tigkeit an frühere Grund­ent­schei­dungen einzuführen. Einen zulässigen Systemwechsel kann es jedoch ohne ein Mindestmaß an neuer Syste­mo­ri­en­tierung nicht geben. Anderenfalls ließe sich jedwede Ausnah­me­re­gelung als (Anfang einer) Neukonzeption deklarieren. Die neuen Bestimmungen zur räumlichen Abgrenzung abzugsfähiger Wegekosten lassen eine Orientierung an einer - etwa nach und nach zu verwirk­li­chenden - neuen Grundkonzeption nicht erkennen. Der generelle Ausschluss der Wegeauf­wen­dungen aus dem Tatbestand der Werbungskosten und die gleichzeitige Anordnung, die Kosten für Wege ab 21 km "wie" Werbungskosten zu behandeln und für diese eine aufwand­s­u­n­ab­hängige Entfernungspauschale anzusetzen, ist durch eine wider­sprüchliche Verbindung und Verschränkung unter­schied­licher Regelungs­gehalte und Regelungsziele gekennzeichnet und beruht nicht auf einer übergreifenden Konzeption: Insbesondere lässt sich die praktische Aufrecht­er­haltung der vorangehenden Rechtslage für Wege ab 21 km mangels plausibler Härtekriterien als Härte­fa­ll­re­gelung nicht rechtfertigen, und die aufwand­s­u­n­ab­hängige Pauschale wirkt, wie die frühere unbeschränkte Entfer­nungs­pau­schale, in den Fällen fehlenden oder geringeren Aufwands wegen kostenfreier oder -günstiger Trans­port­mög­lich­keiten als Subvention zur Förderung verkehrs- und umwelt­po­li­tischer Ziele. Diesen Zielen aber widerspricht der Einsatz der Pauschale als Härteregelung, denn so werden gerade Wahl und Aufrecht­er­haltung längerer Wegstrecken und damit die Entscheidung für verkehrs- und umweltpolitisch weniger erwünschtes Verhalten belohnt, während die Entscheidung für nahes Wohnen am "Werkstor" zielwidrig benachteiligt wird.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

der Leitsatz

Zu den Anforderungen an eine folgerichtige Abgrenzung von Erwer­b­s­auf­wen­dungen im Einkom­men­steu­errecht.

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