18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.05.2016

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen einzelne Regelungen des Tabak­erzeugnis­gesetzes erfolglosMit der Umsetzung der gesetzlichen Regelung verbundene Nachteile weisen kein deutlich überwiegendes Gewicht auf

Das Bundes­verfassungs­gericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen einzelne Regelungen des am 20. Mai 2016 in Kraft tretenden Tabak­erzeugnis­gesetzes abgelehnt. Die Entscheidung des Gerichts beruht auf einer Folgenabwägung. Die gesetzlichen Neuregelungen bezwecken primär eine Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts zum Abbau von Markthemmnissen und dienen damit einem wichtigen Ziel der Europäischen Union. Daneben ist eine Förderung des Gesund­heits­schutzes Ziel der Regelungen und damit ein überragend wichtiges Gemeinwohlziel von Verfassungsrang (Art. 2 Abs. 2 GG). Demgegenüber weisen die von der Beschwer­de­führerin geltend gemachten, mit der Umsetzung der Regelung verbundenen berück­sich­tigungs­fähigen Nachteile kein deutlich überwiegendes Gewicht auf.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens, die verschiedene Tabak­er­zeugnisse herstellt, wendet sich mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Wesentlichen gegen einzelne Regelungen des Tabak­er­zeug­nis­ge­setzes vom 4. April 2016, das am 20. Mai 2016 in Kraft tritt. Sie beanstandet unter anderem die Vorschriften zur verpflichtenden Gestaltung von Verpackungen mit sogenannten "Schockfotos", das Verbot des Inver­kehr­bringens von Zigaretten und Tabaken zum Selbstdrehen mit charak­te­ris­tischen Aromen sowie das Verbot irreführender werblicher Informationen auf Verpackungen oder Tabak­er­zeug­nissen, die sich auf Geschmack, Geruch, Aromastoffe und sonstige Zusatzstoffe oder deren Fehlen beziehen. Mit der Verfas­sungs­be­schwerde rügt die Beschwer­de­führerin eine Verletzung ihrer Grundrechte gemäß Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht muss bei offenem Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens Folgenabwägung vornehmen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für zulässig, aber unbegründet. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Die Erfolgs­aus­sichten in der Hauptsache haben außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Folgenabwägung vornehmen.

BVerfG verneint einstweilige Anordnung nach Folgeabwägung

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Nach dem Ergebnis der Folgenabwägung kann aber eine einstweilige Anordnung nicht ergehen. Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein besonders strenger Maßstab, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt. Dieser Maßstab ist noch zu verschärfen, wenn eine einstweilige Anordnung begehrt wird, durch die der Vollzug einer Rechtsnorm ausgesetzt werden soll, die zwingende Vorgaben des Unionsrechts in das deutsche Recht umsetzt. Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass den Betroffenen aus der Vollziehung des Gesetzes ein besonders schwerwiegender und irreparabler Schaden droht. Der anzulegende äußerst strenge Maßstab stellt außerdem sehr hohe Anforderungen an die Darlegung der drohenden Nachteile.

Schwerwiegende Nachteile für Branche der Tabakhersteller nicht nachgewiesen

Der Beschwer­de­führerin ist es weder gelungen, besonders schwerwiegende, insbesondere an die Schwelle der Existenz­be­drohung heranreichende, irreparable Nachteile für die ganze Branche der Tabakhersteller oder zumindest eine erhebliche Anzahl an Unternehmen noch im Hinblick auf ihre eigene Situation darzulegen.

Aus der Umsetzung der Richtlinie sich selbst ergebende Nachteile sind nach Urteil des EuGH grundsätzlich hinzunehmen

Die Folgen der Neuregelung für andere Marktteilnehmer stellt die Beschwer­de­führerin, wenngleich unter Verweis auf eine besondere Betroffenheit kleiner und mittlerer Unternehmen, im Wesentlichen nur pauschal dar. Im Hinblick auf ihre eigene Situation ist zu berücksichtigen, dass wirtschaftliche Nachteile, die lediglich Einzelnen durch den Vollzug eines Gesetzes entstehen, nur ganz ausnahmsweise geeignet sein können, die Aussetzung von Normen zu begründen. Zudem hat der Europäische Gerichtshof über die Verhält­nis­mä­ßigkeit zentraler Vorgaben der EU-Tabak­pro­duk­trichtlinie II, auf denen die angegriffenen Vorschriften des Tabak­er­zeug­nis­ge­setzes beruhen, nach Maßgabe des Unions­pri­mär­rechts bereits mit Urteilen vom 4. Mai 2016 entschieden und diese Vorgaben nicht beanstandet. Damit sind die sich aus der Umsetzung der Richtlinie selbst ergebenden Nachteile grundsätzlich hinzunehmen und können für den Antrag auf Aussetzung der beanstandeten Vorschriften nicht mehr von durchgreifendem Gewicht sein.

Mögliche existenz­be­drohende Schäden nicht hinreichend substantiiert dargelegt

Zu berücksichtigen wären allenfalls Nachteile, welche sich aus den als fehlend oder jedenfalls als unzureichend beanstandeten Überg­angs­re­ge­lungen ergeben, sei es aufgrund der zwingenden unions­recht­lichen Vorgaben zum Inkrafttreten der nationalen Umsetzungsakte oder aufgrund eines zu späten Tätigwerdens des deutschen Gesetzgebers. Dass ihr allein deswegen bereits nicht wieder gutzumachende und existenz­be­drohende Schäden drohen würden, hat die Beschwer­de­führerin indessen nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

Förderung des Gesund­heits­schutzes überragend wichtiges Gemeinwohlziel

Ein deutliches Überwiegen der auf Seiten der Beschwer­de­führerin allenfalls zu berück­sich­ti­genden Nachteile lässt sich danach nicht feststellen. Die gesetzlichen Neuregelungen bezwecken primär eine Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts zum Abbau von Markthemmnissen und dienen damit einem wichtigen Ziel der Europäischen Union. Daneben ist eine Förderung des Gesund­heits­schutzes Ziel der Regelungen und damit ein überragend wichtiges Gemeinwohlziel von Verfassungsrang (Art. 2 Abs. 2 GG). Zwar würde im Falle eines Erfolges des Antrags auf einstweilige Anordnung die Verwirklichung dieser Ziele zeitlich zunächst nur aufgeschoben. Bereits eine solche zeitliche Verzögerung führte jedoch zu einer weiteren Einschränkung der Wirksamkeit der Neuregelung über die im Gesetz selbst enthaltenen Überg­angs­re­ge­lungen hinaus. Es ist im Hinblick darauf nicht erkennbar, dass die in Rede stehenden Nachteile ein solches Gewicht aufweisen, dass sie nach den dargelegten Maßstäben und in Anbetracht der überragenden Bedeutung der vom Gesetzgeber bezweckten Ziele eine weitergehende Effek­ti­vi­täts­be­ein­träch­tigung rechtfertigen könnten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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