21.11.2024
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Dokument-Nr. 16459

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Beschluss24.07.2013Bundesverfassungsgericht1 BvR 444/13 und 1 BvR 527/13
Vorinstanzen zu dem Aktenzeichen 1 BvR 444/13::
  • Amtsgericht Potsdam, Urteil26.03.2012, 82 Ds 1958 Js 23018/10 (213/11
  • Landgericht Potsdam, Beschluss08.01.2013, 26 Ns 95/12
Vorinstanzen zu dem Aktenzeichen 1 BvR 527/13::
  • Amtsgericht Potsdam, Urteil26.03.2012, 82 Ds 1958 Js 23018/10 (213/11)
  • Landgericht Potsdam, Beschluss08.01.2013, 26 Ns 95/12
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss24.07.2013

Strafrechtliche Verurteilung von Mitarbeitern einer Flücht­ling­s­or­ga­ni­sation wegen Kritik an Auslän­der­behörde verstößt gegen Meinungs­freiheitMeinung­s­äu­ßerung oder Tatsa­chen­be­hauptung: Gesamtkontext der Äußerung ausschlaggebend

Strafgerichte müssen bei der Beurteilung von Kritik an öffentlichen Stellen beachten, dass das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, zum Kernbereich der Meinungs­freiheit gehört und bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwer­de­führer sind Mitarbeiter einer Flüchtlingsorganisation, die im Jahre 2010 dem Rechtsamt der Stadt B. sowie einer namentlich genannten Sachbearbeiterin des Rechtsamts anlässlich des „Antiras­sis­mustag 2010“ einen im Internet veröf­fent­lichten „Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“ „verlieh“. Die Beschwer­de­führer waren für dessen Inhalt mitver­ant­wortlich. Die Begründung des „Denkzettels“ kritisierte, dass die Behörde einem Flüchtling wider besseres Wissen eine Vortäuschung seiner fachärztlich bescheinigten Gehörlosigkeit unterstellt habe. Die im Rahmen eines verwal­tungs­ge­richt­lichen Rechtsstreits abgegebene Stellungnahme der Stadt habe absichtlich und bewusst vorliegende Fakten ignoriert, um Gründe für eine Ablehnung der Aufent­halt­s­er­laubnis vorbringen zu können. Dies stelle eine unmenschliche, diskri­mi­nierende und jegliche Tatsachen ignorierende Umgangsweise mit dem Flüchtling dar.

AG: Verurteilung der Beschwer­de­führer wegen übler Nachrede

Das zuständige Amtsgericht verurteilte die Beschwer­de­führer wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) zu Lasten der Sachbe­a­r­beiterin. Die im „Denkzettel“ aufgestellte Tatsa­chen­be­hauptung, die Sachbe­a­r­beiterin habe wissentlich Tatsachen bei ihren Ausführungen gegenüber dem Verwal­tungs­gericht verschwiegen, sei nicht erweislich gewesen. Die Beschwer­de­führer hätten bei sorgfältiger Recherche erkennen können, dass der Sachbe­a­r­beiterin die ärztlichen Stellungnahmen zur Gehörlosigkeit des Flüchtlings nicht vorgelegen hatten und sie somit nicht absichtlich und bewusst Fakten ignoriert habe.

LG nahm Berufung nicht zur Entscheidung an

Das Landgericht nahm die Berufung wegen offen­sicht­licher Unbegründetheit nicht zur Entscheidung an. Das Landgericht ging insbesondere davon aus, dass mit der fraglichen Äußerung die Diffamierung der betroffenen Sachbe­a­r­beiterin im Vordergrund gestanden habe und dass die ehrverletzenden Äußerungen nicht in legitimer Weise zur Meinungsbildung beitragen hätten können.

Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf Meinungs­freiheit verletzt

Diese gerichtlichen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

Äußerung insgesamt betrachtet eine zusammenfassend bewertende Stellungnahme

Die Gerichte verkürzen den Schutzgehalt des Grundrechts hinsichtlich der gegen­ständ­lichen Äußerungen insofern, als sie in verfas­sungs­rechtlich nicht mehr tragbarer Art und Weise vom Vorliegen einer Tatsa­chen­be­hauptung ausgehen. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinung­s­äu­ßerung oder als Tatsa­chen­be­hauptung anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an. Ist im Einzelfall eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nicht möglich, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grund­rechts­schutzes insgesamt als Meinung­s­äu­ßerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grund­rechts­schutzes drohte. Vorliegend ist die Äußerung, dass das Rechtsamt absichtlich und bewusst vorliegende Fakten ignoriere, um Gründe für eine Ablehnung der Aufent­halt­s­er­laubnis vorbringen zu können, ihrem Sinn und systematischen Kontext nach eine das Hinter­grund­ge­schehen zusammenfassend bewertende Stellungnahme.

Überzogene oder ausfällige Kritik stellt noch keine Schmähung dar

Das Landgericht hat zudem den Schutzgehalt der Meinungs­freiheit insofern verkürzt, als es die fraglichen Äußerungen offensichtlich als Schmähkritik bewertet und in der Folge die erforderliche Abwägung zwischen dem Ehrschutz einerseits und der Meinungs­freiheit andererseits zumindest nicht im gebotenen Umfang unter Berück­sich­tigung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen hat. Der Begriff der Schmähkritik ist eng definiert. Eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Ausein­an­der­setzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Vorliegend steht mit der Äußerung aber nicht die Sachbe­a­r­beiterin in ihrer Funktion im Fokus der Kritik. Die konkret für strafwürdig erachteten Äußerungen verlieren auch nicht jeden Sachbezug zum kritisierten Geschehen, mögen sie auch scharf und überzogen sein.

Scharfe Kritik an Maßnahmen der öffentlichen Gewalt gehört zum Kernbereich der Meinungs­freiheit

Auch im Übrigen messen die Gerichte der Meinungs­freiheit selbst unter der - unzutreffenden - Prämisse einer Tatsa­chen­be­hauptung im Rahmen der Abwägung nicht genügend Bedeutung bei. Es ist zu berücksichtigen, dass das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, zum Kernbereich der Meinungs­freiheit gehört und bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen ist. Auch ist in Anbetracht der tatsächlichen gerichtlichen Feststellungen, insbesondere betreffend das Hinter­grund­ge­schehen, das Maß der Ehrverletzung der Sachbe­a­r­beiterin nicht derart hoch, dass diese im konkreten Fall die Meinungs­freiheit überwiegen könnte. Dabei erlaubt es die Meinungs­freiheit insbesondere nicht, die Beschwer­de­führer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihnen damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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