18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.02.2011

BVerfG: Ehemaliger Strafgefangener hat Anspruch auf Prozess­kos­tenhilfe für Amtshaf­tungsklage wegen menschen­un­würdiger Haftun­ter­bringungUnterbringung zweier Gefangenen in acht Quadratmeter großem Haftraum verletzt Menschenwürde

Die Unterbringung in Hafträumen von nur 8 qm Größe mit weiteren Strafgefangenen und nur einer direkt im Haftraum befindlichen Toilette ist menschen­un­würdig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht und erklärte damit eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Versagung von Prozess­kos­tenhilfe für eine Amtshaf­tungsklage wegen menschen­un­würdiger Haftun­ter­bringung für zulässig.

Der Beschwer­de­führer beantragte Prozesskostenhilfe für eine Amtshaf­tungsklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen menschen­un­würdiger Unterbringung in zwei Justiz­voll­zugs­an­stalten, in denen er sich zunächst in Unter­su­chungshaft und später in Strafhaft befunden hatte. Er sei im Jahr 2007 insgesamt 151 Tage unter menschen­un­würdigen Haftbedingungen untergebracht worden: Die ihm jeweils zugewiesenen Hafträume, die er sich mit einem Mitgefangenen habe teilen müssen, hätten lediglich eine Grundfläche von 8 qm aufgewiesen. Die darin befindliche Toilette sei nur durch eine verstellbare Holzwand mit einer kleinen Sicht­schutz­fläche vom übrigen Raum abgetrennt gewesen. Der Tisch, an dem die Mahlzeiten eingenommen worden seien, sei nur einen Meter von der Toilette entfernt gewesen. Abgesehen von etwa einem Monat, in dem er aufgrund einer Arbeit­s­tä­tigkeit den Haftraum täglich für 8 Stunden habe verlassen können, habe er sich im Übrigen 23 Stunden täglich mit wechselnden Mitgefangenen darin befunden. Auf seine Proteste und Verle­gungs­anträge sei ihm nur jeweils mitgeteilt worden, dass eine Verlegung nicht möglich sei, da die Justiz­voll­zugs­an­stalten überbelegt seien und es eine Warteliste gebe. Einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung habe er nicht gestellt, weil das Land mangels räumlicher Kapazitäten kontinuierlich gerichtliche Entscheidungen ignoriere.

Landgericht verneint Verletzung der Menschenwürde

Das Landgericht wies das Prozess­kos­ten­hil­fe­gesuch des Beschwer­de­führers zurück. Ein Entschä­di­gungs­an­spruch aus § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG stehe ihm nicht zu. Die gemeinsame Unterbringung von Strafgefangenen stelle ohne das Hinzutreten erschwerender, den Strafgefangenen benach­tei­li­gender Umstände keine Verletzung der Menschenwürde dar. Die Gewährung einer Geldent­schä­digung setze nicht nur das Vorhandensein von besonders bedrückenden räumlichen Verhältnissen voraus, sondern der zu unterstellende beengte Zustand des Haftraums müsse den betroffenen Gefangenen seelisch oder körperlich nachhaltig und dauerhaft belastet haben. Dazu trage der Beschwer­de­führer nur unsubstantiiert vor. Zudem habe dieser dadurch, dass er jedenfalls für einen Monat einer Arbeit nachgegangen sei und im Übrigen eine Stunde Freigang gehabt habe, Vergünstigungen erhalten, durch welche die Haftbedingungen gemildert worden seien. Ein Entschä­di­gungs­an­spruch sei überdies gemäß § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, weil der Beschwer­de­führer es schuldhaft unterlassen habe, den ihm nach dem Straf­voll­zugs­gesetz bzw. den für die Unter­su­chungshaft geltenden Vorschriften möglichen Rechtsbehelf einzulegen. Denn dadurch hätte er den von ihm jetzt geltend gemachten Eingriff in sein Persön­lich­keitsrecht durch menschen­un­würdige Haftbedingungen abwenden können. Das Oberlan­des­gericht wies die sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts zurück.

Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit verletzt

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer u. a. eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechts­schutz­gleichheit. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie den Beschwer­de­führer in seinem Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen worden.

Bemittelte und Unbemittelten haben bei Verwirklichung des Rechtsschutzes Anspruch auf weitgehende Angleichung

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Der verfas­sungs­rechtliche Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Diesem Gebot widerspricht es, wenn ein Fachgericht bereits im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren bei der Prüfung der Erfolgs­aus­sichten der beabsichtigten Rechts­ver­folgung eine entschei­dungs­er­hebliche schwierige Rechtsfrage zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet oder von der höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung abweicht. So verhält es sich hier.

Landgericht weicht zu Unrecht von fachge­richt­licher und verfas­sungs­recht­licher Rechtsprechung ab

Das Landgericht weicht bei der Beurteilung der Erfolgs­aus­sichten der beabsichtigten Amtshaf­tungsklage in Bezug auf die Voraussetzungen einer Menschen­wür­de­ver­letzung von der fachge­richt­lichen und verfas­sungs­recht­lichen Rechtsprechung ab. Danach erfüllen die vom Landgericht als gegeben unterstellten räumlichen Haftbedingungen die Kriterien für eine Verletzung der Menschenwürde, da in den vom Beschwer­de­führer bewohnten Hafträumen die üblicherweise veranschlagten Mindestflächen pro Gefangenen unterschritten wurden und die jeweils integrierte Toilette nicht räumlich abgetrennt und belüftet war. Zusätzlicher Umstände bedurfte es nach der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs jedenfalls zur Annahme einer Menschen­wür­de­ver­letzung nicht. Ferner lagen auch keine Umstände vor, welche die räumlichen Haftbedingungen abgemildert hätten. So ist es unerheblich, dass der Beschwer­de­führer zeitweilig einer Arbeit nachging, da er für diesen Zeitraum keine Entschädigung beansprucht. Soweit das Landgericht ohne entsprechenden Tatsa­chen­vortrag unterstellt hat, der Beschwer­de­führer hätte täglich Sport- und Freizeit­an­geboten nachgehen können, ist nicht ersichtlich, wie diese sich bei einer täglichen dreiund­zwan­zig­stündigen Einschlusszeit maßgeblich auf die Haftbedingungen hätten auswirken können. Gleiches gilt für die tägliche Stunde Hofgang.

Landgericht spricht Erfolgs­aus­sichten für Amtshaf­tungsklage zu Unrecht ab

Es ist ebenfalls verfas­sungs­rechtlich zu beanstanden, dass das Landgericht der beabsichtigten Amtshaf­tungsklage die Erfolgsaussicht deshalb abgesprochen hat, weil der Beschwer­de­führer keinen Rechtsbehelf gegen die von ihm gerügten Haftbedingungen eingelegt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs kann die Schaden­s­er­satz­pflicht gemäß § 839 Abs. 3 BGB nur dann vollumfänglich verneint werden, wenn die Einlegung eines gebotenen Rechtsbehelfs den Schaden­s­eintritt gänzlich verhindert hätte. Für die Kausalität zwischen Nichteinlegung des Rechtsbehelfs und dem Schaden­s­eintritt trägt der Schädiger die Darlegungs- und Beweispflicht. Hiervon ist das Landgericht abgewichen. Denn für seine Annahme, dass einem Rechtsbehelf des Beschwer­de­führers stattgegeben und er sofort in eine Einzelzelle verlegt worden wäre, mit der Folge, dass eine Menschen­wür­de­ver­letzung gänzlich verhindert worden wäre, fehlt es an einem entsprechenden Vortrag des hier darlegungs- und beweis­be­lasteten Landes. Es hat zur Frage der Kausalität überhaupt nicht Stellung genommen, obwohl der Beschwer­de­führer diese nicht nur ausdrücklich bestritten, sondern auch tatsächliche Anhaltspunkte dafür aufgezeigt hat, dass ein Rechtsbehelf mangels räumlicher Kapazitäten keine Abhilfe gebracht hätte.

Landgericht durfte Zuerkennung von Geldent­schä­digung nicht in Vorwegnahme des Haupt­sa­che­ver­fahrens abschließend entscheiden

Ferner hat das Landgericht im Hinblick auf die Rechts­fol­genseite des geltend gemachten Anspruchs, die Gewährung einer Geldent­schä­digung, eine schwierige entschei­dungs­er­hebliche Rechtsfrage im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren entschieden. Das Landgericht stützt sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs, der eine Geldent­schä­digung wegen menschen­un­würdiger Haftbedingungen von Zusat­zer­for­der­nissen wie etwa der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs bzw. die konkrete Beein­träch­tigung des körperlichen und seelischen Wohls, ferner von dem Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie von dem Grad seines Verschuldens abhängig macht. Dabei hat das Landgericht vernachlässigt, dass sich die betreffende Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs mit einem wesentlich abweichenden Sachverhalt befasst und die Zusat­zer­for­dernisse erkennbar an die kurze Dauer jener menschen­un­würdigen Unterbringung von lediglich zwei Tagen anknüpft. Demgegenüber ist hier selbst nach dem Vortrag des Landes ein Zeitraum zu veranschlagen, welcher im Verhältnis zu der Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs die dort zugrunde liegende Unter­brin­gungsdauer um ein Vielfaches übersteigt. Die bislang ungeklärte Rechtsfrage, ob bei längerer Dauer menschen­un­würdiger Unterbringung für die Zuerkennung einer Geldent­schä­digung auf die vom Bundes­ge­richtshof in anderer Konstellation geforderten Zusat­zer­for­dernisse verzichtet werden kann, durfte das Landgericht nicht in Vorwegnahme des Haupt­sa­che­ver­fahrens abschließend im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren entscheiden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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