14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.03.2011

BVerfG: Sitzblockade kann nicht immer als strafbare Nötigung angesehen werdenSitzblockade mit Grundrecht auf Versamm­lungs­freiheit vereinbar

Eine Sitzblockade, die den Zweck hat, Aufmerksamkeit zu erregen und auf diese Weise einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, kann nicht immer automatisch als stafbare Nötigung gewertet werden. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Im zugrunde liegenden Fall ließe sich der Beschwer­de­führer am 15. März 2004 zusammen mit circa 40 anderen Personen aus Protest gegen die sich abzeichnende militärische Intervention der USA im Irak auf der zu dem Luftwaf­fen­stützpunkt der US-amerikanischen Streitkräfte bei Frankfurt am Main führenden Ellis Road nieder. Daraufhin wurde er vom Amtsgericht wegen Nötigung nach § 240 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.

Landgericht sieht Tatbestand der Nötigung erfüllt

Das Landgericht verwarf die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwer­de­führers. Die Demonstranten hätten den Tatbestand der Nötigung erfüllt, indem sie mit der Sitzblockade gegenüber denjenigen Fahrzeugführern Gewalt ausgeübt hätten, die durch vor ihnen anhaltende Fahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert worden seien. Außerdem hätten sie rechtswidrig gehandelt. Die von ihnen ausgeübte Gewalt sei Mittel zum Zweck der Erregung von Aufmerksamkeit für bestimmte politische Zwecke gewesen. Zwangs­ein­wir­kungen, die allein darauf abzielten, durch gewaltsamen Eingriff in Rechte Dritter gesteigertes Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen, seien durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht gedeckt. Zudem sei die Beein­träch­tigung fremder Freiheit ein völlig ungeeignetes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes gewesen. Schließlich beseitigten gesell­schafts­po­li­tische Motive nicht die Rechts­wid­rigkeit des Eingriffs in Rechte Dritter, sondern seien in der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Beschwer­de­führer fühlt sich in Recht auf Versamm­lungs­freiheit verletzt

Mit der gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichteten Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung des aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Analogieverbots sowie der Versamm­lungs­freiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG.

BVerfG bejaht Verletzung des Grundrechts auf Versamm­lungs­freiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die angegriffene Entscheidung aufgehoben, weil sie den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Versamm­lungs­freiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Einen Verstoß gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Analogieverbot durch die umstrittene „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundes­ge­richtshofs konnte die Kammer dagegen nicht erkennen.

Tat darf nur bestraft werden, wenn Strafbarkeit - bevor Tat begangen wurde - gesetzlich bestimmt war

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Die vom Landgericht bei der Auslegung des Gewaltbegriffs des Nötigung­s­tat­be­standes herangezogene so genannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundes­ge­richtshofs begegnet keinen Bedenken in Bezug auf Art. 103 Abs. 2 GG. Nach dieser Vorschrift darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Daraus folgt für die Rechtsprechung ein Verbot, den Inhalt der Strafvorschrift zu erweitern und damit Verhal­tens­weisen in die Strafbarkeit einzubeziehen, die nach dem Wortsinn der Vorschrift den Straftatbestand nicht mehr erfüllen.

Einflussnahme eines mittelbaren Täters auf den Tatmittler kann auch durch psychische Einwirkung erfolgen

In der vorliegenden Situation ergibt sich die Tatbe­stands­mä­ßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Einwirkung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler auf die nachfolgenden Fahrzeugführer. Die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht in früheren Entscheidungen für die Annahme von Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB geforderte körperliche Zwangswirkung liegt vor. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, dass dies nicht für das Verhältnis der Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer gilt, der aus Rücksicht auf die Rechtsgüter der Demonstranten und damit allein aus psychischem Zwang anhält. Eine körperliche Zwangswirkung kann jedoch im Verhältnis des ersten Fahrzeugführers zu den nachfolgenden Fahrzeugführern angenommen werden. Die Tatbe­stands­mä­ßigkeit des Verhaltens der Demonstranten folgt daraus, dass diese den anhaltenden ersten Fahrzeugführer und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines körperlichen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer benutzen. Dass hierbei im Verhältnis von Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer keine körperliche, sondern allein eine psychische Zwangswirkung vorliegt, ist für § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ohne Belang, da die Einflussnahme eines mittelbaren Täters auf den Tatmittler durchaus allein psychischer Natur sein darf. Auch die Annahme, dass die Demonstranten über hinreichende Tatherrschaft beziehungsweise Willen zur Tatherrschaft verfügen, begegnet keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die Demonstranten versetzen den ersten Fahrzeugführer durch ihre Sitzblockade gezielt in ein Dilemma, das dieser rechtlich nicht anders als durch Stehenbleiben und damit durch Behinderung der nachfolgenden Fahrzeugführer auflösen kann. Auch einem Laien ist es hinreichend nachvollziehbar, dass ein Verhalten wie das der Demonstranten durch die Blockade für die im Stau einge­schlossenen Fahrer eine körperliche Zwangswirkung herbeiführt und damit als Nötigung tatbe­standsmäßig sein kann.

BVerfG: LG verneint Versamm­lung­s­cha­rakter der Sitzblockade mit verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähigen Gründen

Die Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwer­de­führer jedoch in seinem Grundrecht auf Versamm­lungs­freiheit. Das Landgericht hat den Versamm­lung­s­cha­rakter der Sitzblockade mit verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint. Dass die Aktion die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckte, lässt den Schutz der Versamm­lungs­freiheit nicht entfallen, sondern macht die gemeinsame Sitzblockade, die somit der öffentlichen Meinungsbildung galt, erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG.

Verurteilung des Beschwer­de­führers ungerecht­fertigt

Die Ausführungen des Landgerichts rechtfertigen die Verurteilung des Beschwer­de­führers mit Blick auf die damit einschlägige Versamm­lungs­freiheit nicht.

Landgericht gewichtet zugunsten des Beschwer­de­führers streitende Umstände fehlerhaft

Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist die Nötigungs­handlung rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt im Verhältnis zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Die Entscheidung des Landgerichts wird den diesbezüglichen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht gerecht. Zum einen hat es nicht sämtliche Gesichtspunkte in die gebotene Abwägung eingestellt, zum anderen die zugunsten des Beschwer­de­führers streitenden Umstände fehlerhaft gewichtet. Zu Unrecht hat es insbesondere den Zweck der Sitzblockade, Aufmerksamkeit zu erregen und auf diese Weise einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, als einen für die Verwerflichkeit der Tat sprechenden Gesichtspunkt zu Lasten des Beschwer­de­führers gewertet. Des Weiteren hat es verkannt, dass der Kommu­ni­ka­ti­o­nszweck nicht erst bei der Strafzumessung, sondern im Rahmen der Verwerf­lich­keits­klausel gemäß § 240 Abs. 2 StGB, mithin bei der Prüfung der Rechts­wid­rigkeit, zu berücksichtigen ist. Verfas­sungs­rechtlich zu beanstanden ist des Weiteren, dass das Landgericht bei der Abwägung die Dauer der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, die Ausweich­mög­lich­keiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports sowie die Anzahl der von ihr betroffenen Fahrzeugführer gänzlich außer Betracht gelassen hat.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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