18.10.2024
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Dokument-Nr. 1662

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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.12.2005

Castor-Sitzblockade: Bundes­ver­fas­sungs­gericht stärkt Rechte von DemonstrantenErfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen freiheits­ent­ziehende Maßnahmen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in Karlsruhe hat entschieden, dass die Polizei Demonstranten ohne richterliche Anordnung nicht stundenlang in Gewahrsam nehmen darf.

Die Beschwer­de­führerin nahm im November 2001 im Zusammenhang mit einem Castor-Transport mit rund 200 Personen an einer Straßen­sitz­blockade teil. Als sie einem Platzverweis nicht nachkam, nahm die Polizei sie von 10.20 Uhr bis 8.23 Uhr des darauf folgenden Tages in Gewahrsam, ohne dass sich während dieser Zeit ein Richter mit der Sache befasst hatte.

Ihre hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, die die nachträglichen Anträge der Beschwer­de­führerin auf Feststellung der Rechts­wid­rigkeit der Freiheits­ent­ziehung sowie der Art und Weise ihrer Durchführung zurückgewiesen hatten, die Beschwer­de­führerin in ihrem Freiheits­grundrecht sowie ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzten. Die Gerichte hätten den entschei­dungs­er­heb­lichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Eine Freiheits­ent­ziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung genügt nur in Ausnahmefällen. In einem solchen Fall ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Das Gebot der Unver­züg­lichkeit verpflichtet zum einen die Polizei, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen. Zum anderen muss auch die weitere Sachbehandlung durch den Richter dem Gebot der Unver­züg­lichkeit entsprechen. Darüber hinaus ist es unverzichtbare Voraussetzung rechts­s­taat­lichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Zum einen haben die Gerichte den zeitlichen Ablauf des polizeilichen Vorgehens im Rahmen der Gewahrsamsnahme nicht analysiert. Hierzu hätte Veranlassung bestanden, weil Zeiträume von mehreren Stunden im Ablauf der Gewahrsamnahme ungeklärt sind. Die Beschwer­de­führerin wurde um 10.20 Uhr in Gewahrsam genommen, um 13.19 Uhr traf das Trans­port­fahrzeug in der Gefan­ge­nen­sam­mel­stelle ein. Ein – erst um 21.01 Uhr erstellter – Daten­er­fas­sungsbogen nennt als Aufnahmezeit hinsichtlich der Beschwer­de­führerin 16.25 Uhr. Der Antrag der Bezirks­re­gierung auf richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der freiheits­be­schrän­kenden Maßnahme datiert zwar noch vom selben Tag. Aus einer Mitteilung des Amtsgerichts ergibt sich aber, dass dieser erst am nächsten Tag bei Gericht eingegangen ist, ohne dass die genaue Uhrzeit ermittelt werden konnte. Die Ausführungen der Fachgerichte zu diesem zeitlichen Ablauf innerhalb der Gefan­ge­nen­sam­mel­stelle beschränken sich auf allgemeine blankettartige Begründungen, die nicht auf den konkreten Fall eingehen. Um der hohen Bedeutung des Richter­vor­behalts als Sicherung gegen unberechtigte Freiheits­ent­zie­hungen gerecht zu werden, hätte das Amtsgericht die konkreten Umstände der eingetretenen Verzögerungen, die das unverzügliche Anhängigmachen des Antrags auf Zulässigkeit und Fortdauer der Gewahrsamnahme verhindert haben, aufklären müssen.

Ferner gibt die Art und Weise der Durchführung des richterlichen Bereit­schafts­dienstes Anlass zu verfas­sungs­recht­lichen Beanstandungen. Der richterliche Bereit­schafts­dienst konnte sich nicht auf die Tageszeit beschränken, sondern musste auch eine Regelung für die Nachtzeit beinhalten, da aufgrund der zu erwartenden Massen­de­mon­s­tra­tionen mit einer Vielzahl von Ingewahr­samnahmen gerechnet werden musste, die nicht sämtlich zur Tageszeit sachgerecht bewältigt werden konnten.

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führerin ferner in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Die Beschwer­de­führerin hat gerügt, dass die Art und Weise des Vollzuges des Gewahrsams einer Ersatz­be­strafung gleich gekommen sei. Diesem Vorbringen ist immanent, dass bessere Bedingungen des Vollzugs durch eine sachgerechte Planung, eine bessere Organisation und Koordinierung wie auch durch eine anderweitige Unterbringung möglich gewesen seien. Den damit von der Beschwer­de­führerin in tatsächlicher Hinsicht aufgeworfenen Fragen sind die Gerichte nicht nachgegangen. Ihnen hätte es oblegen, die Gründe für die Auswahl des Standorts der Gefan­ge­nen­sam­mel­stelle, ihre Kapazi­täts­ge­staltung und die Frage einer zureichenden Ausstattung zu ermitteln und unter Berück­sich­tigung der behörd­li­cherseits geltend gemachten Belange sowie behördlicher Prognose- und Ermes­sens­spielräume zu würdigen.

Quelle: ra-online, BVerfG (pm)

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