24.11.2024
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Dokument-Nr. 10153

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Beschluss29.07.2010Bundesverfassungsgericht1 BvR 1634/04
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JA 2011, 239Zeitschrift: Juristische Arbeitsblätter (JA), Jahrgang: 2011, Seite: 239
  • NVwZ 2010, 1482Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2010, Seite: 1482
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss29.07.2010

Versagung verwal­tungs­ge­richt­lichen Rechtsschutzes gegen Kostenbescheid für polizeiliche Ingewahr­samnahme verfas­sungs­widrigVerletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG

Die Versagung verwal­tungs­ge­richt­lichen Rechtsschutzes gegen einen Kostenbescheid für eine polizeiliche Ingewahr­samnahme ist verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Am 3./4. März 2001 fand an einem Bahnübergang im Landkreis Lüchow-Dannenberg die gegen den Castor-Transport gerichtete Versammlung „Nacht im Gleisbett“ statt. Diese wurde gegen Abend aufgelöst, als sich ein Teil der Demonstranten den Gleisen näherte. Dabei wurde der Beschwer­de­führer in polizeilichen Gewahrsam genommen und für eine Identi­täts­fest­stellung zur Polizei­in­spektion in Lüchow gebracht. Eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der insgesamt circa fünf Stunden dauernden polizeilichen Maßnahme wurde nicht herbeigeführt. Sechs Monate später wurden dem Beschwer­de­führer die Kosten für die polizeiliche Ingewahrsamnahme auferlegt. Seine vor den Verwal­tungs­ge­richten erhobene Klage gegen den Kostenbescheid blieb in allen Instanzen erfolglos. Die Verwal­tungs­ge­richte begründeten dies damit, dass sie im Rahmen der Prüfung des Kosten­be­scheides zwar die Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung, nicht aber inzident die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahr­samnahme prüfen könnten, da für letztere die Zuständigkeit des Amtsgerichts gegeben sei. Es falle in den Risikobereich des Beschwer­de­führers, wenn er im Anschluss an die Ingewahr­samnahme von dieser Rechts­schutz­mög­lichkeit keinen Gebrauch gemacht habe.

Beschwer­de­führer bemängelt Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.

BVerfG bejaht Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben. Diese werden den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen im Hinblick auf das Gebot einer umfassenden Nachprüfung des Verwal­tungs­handelns nicht gerecht und verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.

Gericht des zulässigen Rechtswegs muss auch rechtswegfremde, entschei­dungs­er­hebliche Vorfragen prüfen und über sie entscheiden

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Zwar kann sich der Landes­ge­setzgeber dafür entscheiden, den Rechtsschutz gegen polizeiliche Ingewahr­samnahmen den Amtsgerichten anzuvertrauen, während er die nachgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit des auf der Ingewahr­samnahme beruhenden Kosten­be­scheides bei den Verwal­tungs­ge­richten belässt. Eine solche Rechts­weg­spaltung hat aber nicht automatisch zur Folge, dass es einem angerufenen Gericht verwehrt ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie Hauptfrage, in den Zustän­dig­keits­bereich eines anderen Gerichts fielen. Vielmehr gilt als Ausfluss des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz der Grundsatz, dass das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Dies bedeutet, dass das Gericht des zulässigen Rechtswegs auch rechtswegfremde, entschei­dungs­er­hebliche Vorfragen prüft und über sie entscheidet. Da das einschlägige Landesrecht die Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahr­samnahme durch die Verwal­tungs­ge­richte im Rahmen der Kontrolle nachgelagerter Hoheitsakte weder ausdrücklich ausschließt noch eine materielle Präklusion der dagegen gerichteten Einwände anordnet, entfaltet der Hoheitsakt der polizeilichen Ingewahr­samnahme für den später erlassenen Kostenbescheid keine Vorwirkung. Dementsprechend muss sich der betroffene Bürger, wendet er sich gegen den später erlassenen Kostenbescheid, nicht entgegenhalten lassen, dass er zuvor von der Rechts­schutz­mög­lichkeit gegen die polizeiliche Ingewahr­samnahme keinen Gebrauch gemacht hat.

Hinweis auf vorrangige Entscheidung des Amtsgerichts geht ins Leere

Im Übrigen ging der Hinweis der Verwal­tungs­ge­richte auf eine vorrangige Entscheidung des Amtsgerichts auch ins Leere. Der Rechtsweg zu den Amtsgerichten war nach der damals geltenden Landesnorm nur für den Fall eröffnet, dass die Freiheits­be­schränkung entweder länger als acht Stunden andauerte oder für die Feststellung ein „sonstiges berechtigtes Interesse“ bestand. Dass diese Voraussetzungen hier vorlagen, ist den angegriffenen Entscheidungen nicht zu entnehmen.

Verzicht auf Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahr­samnahme kann nicht durch Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung kompensiert werden

Schließlich kann der Verzicht auf die Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahr­samnahme nicht durch die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung nach dem Versamm­lungs­gesetz des Bundes kompensiert werden. Die polizeiliche Ingewahr­samnahme und die versamm­lungs­rechtliche Auflösung unterfallen von Verfassungs wegen sich gegenseitig ausschließenden Regelungs­regimen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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