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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.08.2010

Verfas­sungs­be­schwerde wegen überlanger Verfahrensdauer beim SozialgerichtGericht erklärt vier Jahre Verfahrensdauer für zu lang

Eine überlange Dauer eines sozial­ge­richt­lichen Verfahrens von knapp vier Jahren verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Der 1958 geborene Beschwer­de­führer war selbständig tätig und nicht kranken­ver­sichert. Seine finanzielle Situation war schwierig. Am 3. Mai 2005 erlitt er einen beidseitigen Hirninfarkt und ist seither pflegebedürftig. Der Kranken­haus­träger, in dessen Klinikum der Beschwer­de­führer nach seinem Hirninfarkt mehrere Monate behandelt worden war, macht gegen ihn Krankenhaus- und Pflegekosten von über 86.000 Euro geltend. Nach seinem Hirninfarkt wurde der Beschwer­de­führer von einer GmbH als deren Arbeitnehmer ab dem 1. Mai 2005 zur Sozia­l­ver­si­cherung angemeldet. Die betroffene gesetzliche Krankenkasse stellte jedoch im Jahr 2006 mit Bescheid fest, dass eine Mitgliedschaft des Beschwer­de­führers bei ihr nicht bestehe.

Beschwer­de­führer rügt überlange Verfahrensdauer

Hiergegen erhob dieser am 24. Juni 2006 Klage beim Sozialgericht. Nach Klagebegründung im Juli 2006 und weiterem Schriftwechsel der Verfah­rens­be­tei­ligten verfügte die Kammer­vor­sitzende im April 2007 das Verfahren ins Terminsfach. Auf zwei Sachstand­s­an­fragen teilte die Vorsitzende u. a. mit, dass noch weitaus ältere Verfahren vorrangig zu entscheiden seien; zuletzt wies sie im September 2008 darauf hin, es würden derzeit Klagen aus dem Jahrgang 2004 terminiert. Die Klage wurde schließlich mit Urteil vom 27. Mai 2010 durch das Sozialgericht abgewiesen. Mit seiner bereits im Januar 2010 eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer die überlange Verfahrensdauer.

Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass die überlange Dauer des sozial­ge­richt­lichen Verfahrens von knapp vier Jahren den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Absatz 4 Satz 1 GG verletzt.

Erwägungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts für seine Entscheidung

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Im Interesse der Rechts­si­cherheit sind strittige Rechts­ver­hältnisse in angemessener Zeit zu klären. Wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist, ist eine Frage der Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, wobei insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Ursachen und die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für sie sowie die Schwierigkeiten der Sachmaterie zu berücksichtigen sind.

Verfah­rens­be­lastung kein Grund für Verzögerung

Bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls liegt hier eine verfas­sungs­widrig lange Verfahrensdauer vor. Das Verfahren betraf eine Statusfrage und war für den pflege- und sozia­l­hil­fe­be­dürftigen Beschwer­de­führer angesichts der gegen ihn gerichteten Forderungen des Kranken­haus­trägers von über 86.000 Euro von eminenter Bedeutung. Das fast vier Jahre anhängige Verfahren war spätestens seit April 2007, als die Vorsitzende die Sache ins Terminsfach verfügte, sitzungsreif. Die Schwierigkeit der Sachmaterie verlangte keine weiteren Ermittlungen außer einer Zeugen­ver­nehmung, die in der mündlichen Verhandlung stattfand. Rechtfertigende Umstände für die erhebliche Verfahrensdauer, insbesondere den Beteiligten oder Dritten zuzurechnende Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen, sind nicht erkennbar. Die hohe Verfah­rens­be­lastung der Sozial­ge­richts­barkeit erster Instanz stellt für sich genommen keinen Recht­fer­ti­gungsgrund dar. Der Staat kann sich nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verant­wor­tungs­bereich liegen.

Grundrechte der Rechtsuchenden durch Verfahrenslast vernachlässigt

Obwohl sich das mit der Verfas­sungs­be­schwerde verfolgte Ziel dese Beschwer­de­führers, eine Entscheidung im sozial­ge­richt­lichen Klageverfahren zu beschleunigen, durch das im Mai 2010 ergangene Urteil erledigt hat, ist ein Rechts­schutz­be­dürfnis weiterhin gegeben. Denn es besteht für den Beschwer­de­führer, für den noch weitere Klagen beim Sozialgericht anhängig sind, die Gefahr der Wiederholung des Grund­recht­s­ein­griffs. Da die betroffene Kammer offenbar schon über Jahre hin einen Verfahrensberg vor sich her schiebt mit der Folge, dass ein Verfahren durch­schnittlich erst nach etwa vier Jahren zur Verhandlung kommt, ist zu befürchten, dass sich die erhebliche Verfahrensverzögerung in anderen beim Sozialgericht schon anhängigen oder in Zukunft anhängig werdenden Klageverfahren wiederholen wird. Durch die Handhabung der Verfahrenslast durch das Sozialgericht bzw. dessen Überlastung werden die Grundrechte der Rechtsuchenden allgemein und insbesondere die Garantie effektiven Rechtsschutzes vernachlässigt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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