Dokument-Nr. 8452
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Bundesverfassungsgericht Beschluss02.09.2009
Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Dauer eines zivilgerichtlichen Verfahrens zulässigBundesverfassungsgericht erklärt 14 Jahre Verhandlungsdauer für zu lang
Auch wenn ein Verfahren durch Gutachten und andere Umstände, die einem Gericht nicht angelastet werden können, verzögert wird, muss ein Gericht sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um das Verfahren zu beschleunigen. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein zivilgerichtliches Verfahren über Abfindungsansprüche nach der Kündigung des Sozietätsvertrages einer Steuerberaterpraxis. Die klagende Beschwerdeführerin hatte die Kündigung erklärt, weil der Beklagte Mandate auf eigene Rechnung bearbeitet hatte. Beim Landgericht Hannover ist das Verfahren seit dem Jahr 1995, also seit 14 Jahren, anhängig. Zwei Teilurteile des Landgerichts hat das Oberlandesgericht in den Jahren 2004 und 2008 aufgehoben und den Rechtsstreit jeweils an das Landgericht zurückverwiesen. Umstritten ist neben dem Wert der Praxis vor allem, ob und inwieweit die Beschwerdeführerin Mandate nach Kündigung des Sozietätsvertrages weiter betreut und dadurch Umsätze erwirtschaftet hat, die ihren Abfindungsanspruch mindern würden. Der Verfahrensausgang ist für die Beschwerdeführerin von besonderer Bedeutung, weil der geltend gemachte Anspruch ihrer Schilderung nach den Hauptbestandteil ihres Vermögens ausmacht und sie durch Schulden, die sie im Zusammenhang mit dem Erwerb der gekündigten Beteiligung an der Steuerberaterpraxis aufgenommen hatte, noch belastet ist.
Gründe für verzögerte Verfahrensdauer
Die außergewöhnlich lange Dauer des komplizierten Verfahrens, in dem bislang ein Gutachten und fünf Ergänzungsgutachten angefordert wurden, beruht auf einigen dem Gericht nicht anzulastenden Umständen: Neben der Komplexität des Rechtsstreits ist insbesondere zu berücksichtigen, dass erhebliche Zeit durch die Einholung der Gutachten verstrichen ist. Deren Erstellung wurde dadurch verzögert, dass erforderliche Unterlagen zeitweise durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt waren, überdies das Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen für den Praxiswert von Bedeutung war und deshalb aus arbeits-ökonomischen Gründen abgewartet wurde, so dass das erste Gutachten erst im Jahr 2000 vorgelegt werden konnte. Eine im Jahr 2001 erhobene Widerklage und im Jahr 2002 geltend gemachte Aufrechnungen haben zu einer weiteren Erschwerung und Verzögerung des Verfahrens geführt.
Landgericht hätte Verfahren beschleunigen können
Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde angenommen und eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG festgestellt. Dem Landgericht ist zwar nicht vorzuwerfen, dass es das Verfahren durch schlichte Nichtbearbeitung verzögert hätte. Die Feststellung des Verfassungsverstoßes beruht vielmehr darauf, dass sich das Landgericht angesichts der zunehmenden und schließlich außergewöhnlich langen Verfahrensdauer nicht darauf hätte beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es jedenfalls nach wenigen Jahren sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Auch ein Bemühen um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen wäre in Betracht zu ziehen gewesen. Dabei hätte das Landgericht einige Verzögerungen vermeiden können. So wurden unter anderem bei einem Wechsel der Kammerbesetzung verfahrensleitende Anordnungen wie die Terminierung einer mündlichen Verhandlung und die Anforderung eines der Ergänzungsgutachten erst in der neuen Kammerbesetzung vorgenommen, obwohl dies bereits in der alten Besetzung möglich gewesen wäre. Neben vermeidbaren kleineren Verzögerungen fällt besonders ins Gewicht, dass das Landgericht jedenfalls bis April 2009 nicht in die Beweiserhebung über die Frage einer Minderung des Anspruchs der Beschwerdeführerin wegen der möglichen Weiterbetreuung von Sozietätsmandaten eingetreten ist, obwohl die Parteien eine Vielzahl von Zeugen benannt hatten und die Relevanz dieses Punktes bereits im Jahr 2004 vom Oberlandesgericht bindend festgestellt worden war. Das Landgericht hätte die Zeugen parallel zur Einholung der Ergänzungsgutachten vernehmen können. Der mit dem dafür erforderlichen Anlegen einer Zweitakte verbundene Aufwand war angesichts der Verfahrensdauer in Kauf zu nehmen. Auch waren die Ergänzungsgutachten nicht vorgreiflich für die Zeugenvernehmungen und deshalb auch nicht zwingend vorab einzuholen. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, weshalb das Landgericht das vierte Ergänzungsgutachten nicht parallel zum Berufungsverfahren über das zweite Teilurteil im Jahr 2007 in Auftrag gegeben hat. Das Verfahren hätte dadurch in diesem fortgeschrittenen Stadium erheblich beschleunigt werden können.
Gericht muss sich nachhaltig um Verfahrensbeschleunigung bemühen
Der Beschluss bestätigt, dass bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, vor allem: die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien; die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten; die Schwierigkeit der Sachmaterie; das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen. Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 14.09.2009
Quelle: ra-online, BVerfG
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