21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.12.2012

Verfas­sungs­be­schwerde gegen versamm­lungs­rechtliche Auflagen erfolgreichVerwal­tungs­ge­richte müssen bereits im Eilverfahren versamm­lungs­rechtliche Maßnahmen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig überprüfen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe für den Rechtsschutz gegen versamm­lungs­rechtliche Maßnahmen bekräftigt und entschieden, dass die Verwal­tungs­ge­richte bereits im Eilverfahren eine vollständige - und nicht nur summarische - Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durchführen müssen. Sofern dies im Einzelfall aus Zeitgründen nicht möglich ist, haben sie jedenfalls eine sorgfältige und hinreichend begründete Folgenabwägung vorzunehmen. Die mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegriffenen verwal­tungs­ge­richt­lichen Entscheidungen hielten diesen Maßstäben nicht stand.

Die Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls meldeten für den 16. Oktober 2010 von 12.00 bis 20.00 Uhr eine Versammlung in der Innenstadt von L. an. Diese sollte aus drei Aufzügen und einer Abschluss­kund­gebung mit geschätzt 600 Teilnehmern bestehen. Das Motto "Recht auf Zukunft" bezog sich auf eine frühere Versammlung, die einer der Beschwer­de­führer - eine Unter­or­ga­ni­sation der NPD - am 17. Oktober 2009 in L. veranstaltet hatte. Damals war es im Zusammenhang mit einer Blockade durch Gegen­de­mon­s­tranten zu gewalttätigen Ausein­an­der­set­zungen gekommen. Letztlich hatte die Polizei die Versammlung aufgelöst.

Polizei­di­rektion verweist auf eine maximal durchführbare vierstündige stationäre Kundgebung

Die Polizei­di­rektion L. bekundete in einer Gefähr­dungs­analyse vom 4. Oktober 2010, dass der Schutz von zwei Aufzügen mit den verfügbaren Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Einer der Beschwer­de­führer teilte am 11. Oktober 2010 mit, dass nur noch ein Aufzug stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizei­di­rektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass lediglich eine maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei. Nach den Erfahrungen vom 17. Oktober 2009 sei mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen. Zudem seien jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der Gegen­de­mon­s­tra­tionen als gewaltbereit einzustufen. Nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizei­hun­dert­schaften stünden zur Verfügung.

Stadt untersagt Durchführung der Versammlung als Aufzug

Am 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 bis 17.00 Uhr in einem Bereich am Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an.

Widerspruch gegen Untersagung des Aufzugs erfolglos

Am gleichen Tag legten die Beschwer­de­führer hiergegen Widerspruch ein und wandten sich zugleich im Eilrechts­schutz­ver­fahren an das Verwal­tungs­gericht. Dieses lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab. Das Oberver­wal­tungs­gericht wies die hiergegen gerichtete Beschwerde am gleichen Tage zurück. Vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht blieb ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - aufgrund der besonderen Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes - erfolglos. Jedoch hat die Kammer auf die Möglichkeit hingewiesen, die aufgeworfenen Fragen in einem verfas­sungs­ge­richt­lichen Haupt­sa­che­ver­fahren zu klären (Beschluss vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -).

Beschwer­de­führer in Recht auf Versamm­lungs­freiheit und Recht auf effektiven Rechtschutz verletzt

Die daraufhin erhobene Verfas­sungs­be­schwerde ist zulässig und begründet. Die Beschlüsse des Verwal­tungs­ge­richts und des Oberver­wal­tungs­ge­richts verletzen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 (Versamm­lungs­freiheit) in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG (Recht auf effektiven Rechtsschutz).

Auflagen für Versammlung nur bei erkennbaren Umständen für Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zulässig

Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Nach § 15 des Versamm­lungs­ge­setzes kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Als Grundlage der Gefahrprognose sind konkrete und nachvoll­ziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich. Hierfür liegt die Darlegungs- und Beweislast grundsätzlich bei der Behörde. Maßnahmen sind primär gegen die Störer zu richten. Gegen eine friedliche Versammlung selbst kann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden.

Fachgericht müssen sorgfältige Folgenabwägung vornehmen

Die Verwal­tungs­ge­richte müssen zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich ist als Grundlage der gebotenen Inter­es­se­n­ab­wägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen. Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen.

VG erfüllt Anforderungen an intensive Recht­mä­ßig­keits­prüfung nicht

Diese Maßstäbe haben das Verwal­tungs­gericht und das Oberver­wal­tungs­gericht nicht hinreichend berücksichtigt. Das Verwal­tungs­gericht legt bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder ob diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegen­de­mon­s­tra­tionen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Auch die tatsächlichen Feststellungen im Hinblick auf einen etwaigen polizeilichen Notstand entsprechen nicht den Anforderungen an die intensivere Recht­mä­ßig­keits­prüfung, die bereits im Eilverfahren geboten ist. Die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefähr­dungs­analyse, die sich nicht ohne weiteres erschließt, hätte das Verwal­tungs­gericht veranlassen müssen, substantiierter zu prüfen und eine genauere Begründung zu verlangen. Es hätte auch dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten.

OVG hätte sorgfältigere Folgenabwägung vornehmen müssen

Das Oberver­wal­tungs­gericht hat zwar deutliche Bedenken gegen das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes und gegen die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefähr­dungs­analyse geäußert. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Oberver­wal­tungs­gericht die hier grundsätzlich gebotene Recht­mä­ßig­keits­kon­trolle der behördlichen Auflage in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Oberver­wal­tungs­gericht in dieser Konstellation, um der Freiheits­ver­mutung zugunsten der Versamm­lungs­freiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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