21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.08.2017

Hartz IV: Sozialgerichte müssen tatsächlich notwendige Eilbe­dürf­tigkeit für vorläufige Leistungs­ge­währung anhand der Umstände des Einzelfalls prüfenVerfassungs­beschwerde gegen die Versagung vorläufiger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung erfolgreich

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Gerichte der Sozial­gerichts­barkeit in einstweiligen Rechts­schutz­verfahren anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen haben, ob tatsächlich die notwendige Eilbe­dürf­tigkeit für eine vorläufige Leistungs­ge­währung vorliegt. Sie können die Eilbe­dürf­tigkeit von vorläufigen Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung deshalb nicht nur pauschal darauf beziehen, ob schon eine Räumungsklage erhoben worden ist.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens bezieht Grund­si­che­rungs­leis­tungen nach dem Sozial­ge­setzbuch Zweites Buch (SGB II). Das Jobcenter ging davon aus, dass er mit einer weiteren Person in einer Bedarfs­ge­mein­schaft lebe und bewilligte daher nur reduzierte Leistungen. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht das Jobcenter, dem Beschwer­de­führer vorläufig die höheren Leistungen für einen Alleinstehenden einschließlich von Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die dagegen erhobene Beschwerde des Jobcenters war vor dem Landes­so­zi­al­gericht erfolgreich. Solange noch keine Räumungsklage erhoben sei, drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Daher fehle die notwendige Eilbedürftigkeit einer Gewährung höherer Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer vornehmlich die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).

Fachgerichte dürfen Anspruch auf vorläufigen Rechtsschutz genau prüfen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verwies in seiner Entscheidung darauf, dass 1. Art. 19 Abs. 4 GG einen effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewehrt. Die Fachgerichte müssen vorläufigen Rechtsschutz gewähren, wenn Antragstellern sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung ihrer Rechte droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrschein­lichkeit ist, dass sie im Falle des Erfolgs in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Entscheidung zurückgestellt werden. Die Fachgerichte dürfen den Anspruch auf Durchsetzung des materiellen Rechts nicht dadurch unzumutbar verkürzen, dass sie Verfahrensrecht übermäßig streng handhaben. Diese Anforderungen gelten auch im sozia­l­recht­lichen Eilrechtsschutz.

Von Gerichten zu prüfende relevante Nachteile sind nicht nur Wohnungs- oder Obdachlosigkeit

Die Entscheidung des Landes­so­zi­al­ge­richts hat die Anforderungen an die Glaub­haft­machung eines Anord­nungs­grundes und damit an einen effektiven Eilrechtsschutz überspannt. Ob ein Anordnungsgrund vorliegt, darf nicht schematisch beurteilt werden. Vielmehr müssen die Sozialgerichte in Eilverfahren zu den Kosten der Unterkunft und Heizung prüfen, welche negativen Folgen den Betroffenen im konkreten Einzelfall drohen. Relevante Nachteile sind dabei nicht nur eine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Die Regelung zu den Kosten der Unterkunft und Heizung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichtet zur Übernahme der "angemessenen" Kosten und soll dazu beitragen, nicht nur die bloße Obdachlosigkeit zu verhindern, sondern darüber hinaus auch das Existenzminimum zu sichern, wozu es gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. Daher muss bei der Prüfung des Anord­nungs­grundes berücksichtigt werden, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesund­heit­licher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Beschwer­de­führer gehabt hätte.

Die Gerichte überspannen die Anforderungen an einen Anordnungsgrund im Eilrechtsschutz auch, wenn sie eine drohende Wohnungs- oder Obdachlosigkeit zeitlich erst dann annehmen, wenn das Mietverhältnis bereits gekündigt und eine Räumungsklage erhoben worden ist. Es kann nicht pauschal angenommen werden, dass zu diesem Zeitpunkt der Verlust der Wohnung noch verhindert werden kann.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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