21.11.2024
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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil27.06.2017

Jobcenter muss Kosten einer Räumungsklage tragenAnfallende Gerichtskosten sind als Bedarfe der Unterkunft zu berücksichtigen

Das Landes­so­zi­al­gericht Baden-Württemberg hat entschieden, dass das Jobcenter die Kosten einer Räumungsklage zu tragen hat, wenn es einem Leistungs­berechtigten zu Unrecht die Leistungen versagt, dadurch Mietrückstände entstehen und der Vermieter in der Folge Räumungsklage erhebt. Die anfallenden Gerichtskosten sind als (einmalig anfallende) Bedarfe der Unterkunft im SGB II zu berücksichtigen.

Der 1953 geborene Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens bezog seit 2005 SGB-II-Leistungen. Er leidet an einer ausgeprägten chronifizierten seelischen Störung. Bereits seit 2009 war zwischen ihm und dem Jobcenter die Frage seiner Erwer­bs­fä­higkeit im Streit. Ende 2011 forderte ihn das Jobcenter auf, Rente wegen Erwer­bs­min­derung zu beantragen. Außerdem bat das Jobcenter die Deutsche Rentenversicherung um Prüfung der Erwer­bs­fä­higkeit und stellte dort selbst für den Kläger einen Rentenantrag. Die Deutsche Renten­ver­si­cherung leitete im August 2012 das Rentenverfahren ein. Ab 1. Februar 2013 strich das Jobcenter dem Kläger sämtliche Leistungen, da er im Rentenverfahren die Antrags­for­mulare nicht ausgefüllt und daher nicht ausreichend mitgewirkt habe. In der Folge konnte der Kläger seine Miete nicht mehr bezahlen. Sein Vermieter erhob Räumungsklage wegen Mietrückständen.

SG: Kosten einer Räumungsklage sind nicht als Bedarfe der Unterkunft berück­sich­ti­gungsfähig

Nachdem die Deutsche Renten­ver­si­cherung im Juni 2013 dem Jobcenter mitgeteilt hatte, dass ausgefüllte Antrags­for­mulare vorlägen, bewilligte das Jobcenter wieder SGB-II-Leistungen. Die Mietrückstände wurden ausgeglichen und die Räumungsklage zurückgezogen. Jedoch setzte das Amtsgericht Gerichtskosten in Höhe von 857,68 Euro fest, die dem Kläger in Rechnung gestellt wurden. Das Jobcenter weigerte sich, diese Kosten zu übernehmen. Widerspruch und Klage in erster Instanz blieben erfolglos. Das Sozialgericht Konstanz hat sich der Argumentation des Jobcenters angeschlossen, wonach Kosten einer Räumungsklage nicht als Bedarfe der Unterkunft berück­sich­ti­gungsfähig seien.

Kosten der Räumungsklage entstanden aufgrund unrichtiger Sachbehandlung des Jobcenters

Das Landes­so­zi­al­gericht Baden-Württemberg bewertete den Fall anders und gab dem Kläger Recht. Das Jobcenter hätte die Leistungen nicht ab 1. Februar 2013 streichen dürfen. Dadurch seien ohne Verschulden des Klägers die Mietrückstände entstanden und es sei zur Räumungsklage gekommen. Deren Kosten seien aufgrund einer unrichtigen Sachbehandlung des Jobcenters im Zusammenhang mit dem Bedarf an Wohnraum angefallen und können daher als Unter­kunfts­kosten berücksichtigt werden, so das Gericht.

Abgabe von Antrags­for­mularen der Deutschen Renten­ver­si­cherung zur Klärung des Sachverhalts nicht erforderlich

Im Einzelnen führte das Landes­so­zi­al­gericht aus, dass nicht ersichtlich sei, dass die Abgabe von Antrags­for­mularen der Deutschen Renten­ver­si­cherung zur Klärung des Sachverhalts überhaupt erforderlich gewesen wäre. Jedenfalls sei die Sachver­halts­auf­klärung hierdurch nicht wesentlich erschwert worden. Eine Verknüpfung der Antrags­for­mulare mit dem Verfahren zur Klärung der Erwer­bs­fä­higkeit bestehe nicht. Für die gutachterliche Stellungnahme benötige es keine Antrags­for­mulare.

Kläger hatte in jedem Fall Anspruch auf Sicherung des Existenz­mi­nimums

Außerdem hat das Jobcenter bei der Versagung der Leistungen das ihm zustehende Ermessen unzureichend ausgeübt, da sich zu maßgeblichen Gesichtspunkten und Fragen keine Ausführungen in den Versa­gungs­be­scheiden finden: Konnte trotz der psychischen Erkrankung des Klägers das geforderte Verhalten abverlangt werden? Weshalb hat das Jobcenter eine Versagung sämtlicher Leistungen und in vollem Umfang für notwendig erachtet? Hat das Jobcenter erkannt, welche Auswirkungen eine vollständige Versagung für den Kläger haben wird (auch mit Blick auf eine drohende Wohnungs­lo­sigkeit)? Da der Kläger in jedem Fall einen Anspruch auf Sicherung des Existenz­mi­nimums hatte, entweder beim Jobcenter oder im Falle der Erwer­bs­min­derung beim Sozialamt, hätte auch nachvollziehbar begründet werden müssen, warum die Behörde dieses Existenzminimum aufgrund nicht erfüllter Mitwir­kungs­pflichten nicht mehr gewährleisten will. Dies gilt umso mehr, als hier nicht nur der tägliche Bedarf, sondern der Lebens­mit­telpunkt einer seit Jahren bewohnten kleinen Wohnung betroffen ist.

Sozial­ge­setzbuch (SGB) Erstes Buch

§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I:

Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwir­kungs­pflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind.

Sozial­ge­setzbuch (SGB) Zweites Buch

§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II:

Erläuterungen

Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.

Quelle: Landessozialgericht Baden-Württemberg/ra-online

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