23.11.2024
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Dokument-Nr. 19246

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.11.2014

Sorge­rechts­ent­ziehung setzt eingehende Feststellungen zur Kindes­wohl­gefährdung vorausÜberprüfung der Voraussetzungen für möglichen Entzug elterlicher Sorge unterliegt strenger verfassungs­gericht­licher Überprüfung im Einzelfall

Das Bundes­verfassungs­gericht hat die verfassungs­recht­lichen Anforderungen an die Entziehung der elterlichen Sorge bekräftigt. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, müssen die Fachgerichte im Einzelfall feststellen, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Stützen sich die Gerichte dabei auf Feststellungen in einem Sach­verständigen­gut­achten, dessen Verwertbarkeit verfassungs­recht­lichen Zweifeln unterliegt, können diese auf die gerichtliche Entscheidung durchschlagen, wenn die Gerichte die Zweifel nicht in der verfassungs­rechtlich gebotenen Weise beseitigen. Aus diesen Gründen hat das Bundes­verfassungs­gericht eine Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für seine im Februar 2013 geborene Tochter. Er stammt aus Ghana und lebt seit Anfang 2012 in Deutschland. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr. Der Beschwer­de­führer erkannte die Vaterschaft vorgeburtlich an, die Eltern gaben Sorge­er­klä­rungen ab. Sie haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt. Nach einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts wurde die Tochter des Beschwer­de­führers kurz nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie bis heute lebt; mit dem Beschwer­de­führer finden begleitete Umgangskontakte statt. Im Ausgangs­ver­fahren entzog das Amtsgericht beiden Eltern mit Beschluss vom 17. September 2013 die elterliche Sorge. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberlan­des­gericht mit Beschluss vom 6. Februar 2014 zurück.

BVerfG bejaht Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der Beschwer­de­führer durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt wird. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Dies setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegt einer strengen verfas­sungs­ge­richt­lichen Überprüfung.

Verwertbarkeit eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens unterliegt erheblichen verfas­sungs­recht­lichen Zweifeln

Die Feststellungen des Amts- wie des Oberlan­des­ge­richts zur Gefährdung des Kindeswohls genügen diesen Anforderungen nicht. Beide Gerichte stützen sich maßgeblich auf die Feststellungen in einem Sachverständigengutachten, die sie im Wesentlichen übernommen und allenfalls ansatzweise eigenständig tatsächlich eingeordnet und rechtlicher Würdigung unterzogen haben. Die Verwertbarkeit des Gutachtens unterliegt erheblichen verfas­sungs­recht­lichen Zweifeln, welche die Gerichte nicht ausgeräumt haben.

Sachver­stän­di­gen­gut­achten stellt nicht verfas­sungs­rechtlich gebotene Frage nach nachhaltiger Gefährdung des Kindeswohls

Im Sachver­stän­di­gen­gut­achten wird die verfas­sungs­rechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erzie­hungs­fä­higkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindes­wohl­gefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären. Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbst­wert­gefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauer­part­ner­schaft und Liebe vorleben“.

Staat darf eigenen Vorstellungen von gelungener Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle elterlicher Vorstellungen setzen

Mit diesen Fragestellungen wird die Erzie­hungs­fä­higkeit des Beschwer­de­führers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erzie­hungs­zu­stän­digkeit der Eltern verfehlt. Eltern müssen ihre Erzie­hungs­fä­higkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erzie­hungs­versagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erzie­hungs­zu­stän­digkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindes­wohl­ge­fährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.

Herkunft des Beschwer­de­führers wurde von Gutachterin in sachlich nicht nachvoll­ziehbarem Maße negativ bewertet

Außerdem finden sich Hinweise darauf, dass die Sachverständige dem Beschwer­de­führer nicht mit der gebotenen Unvor­ein­ge­nom­menheit begegnet ist. Darauf deuten zahlreiche Feststellungen zu Lasten des Beschwer­de­führers hin, die in keinem erkennbaren Zusammenhang zur von der Gutachterin konkret aufgeworfenen Frage stehen. Zudem hat die Sachverständige Äußerungen und Verhal­tens­weisen des Beschwer­de­führers ebenso wie seine von der Gutachterin wiederholt in den Vordergrund gerückte Herkunft aus einem afrikanischen Land in sachlich nicht nachvoll­ziehbarem Maße negativ bewertet. So geht sie davon aus, dass der Beschwer­de­führer umfassend alle nahen zwischen­mensch­lichen Beziehungen - zur Mutter, Tochter und auch zur neuen Partnerin - dazu instru­men­ta­lisiere, seinen Aufent­halts­status zu sichern, und hält Äußerungen des Beschwer­de­führers vor diesem Hintergrund tendenziell für unglaubwürdig. Darüber hinaus bezeichnet die Sachverständige eine autoritäre, gewaltsame und von Unterwerfung der Kinder geprägte Erziehung als „afrikanische Erzie­hungs­methode“, stellt fest, die „afrikanischen Verhal­tens­weisen“ deckten sich nicht mit dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung und hält „Nachschulungen“ des Beschwer­de­führers im Hinblick auf „die Einsichts­fä­higkeit in die europäischen Erzie­hungs­me­thoden“ für erforderlich.

Dass das Sachver­stän­di­gen­gut­achten und die ergänzenden mündlichen Ausführungen für sich genommen keine verlässliche Grundlage für die Feststellung einer Kindes­wohl­ge­fährdung bieten, würde indes nicht ohne weiteres zur Verfas­sungs­wid­rigkeit der Entscheidungen führen. Die Gericht­s­ent­schei­dungen könnten verfas­sungs­ge­richt­licher Kontrolle standhalten, wenn sie die Mängel des Gutachtens thematisierten, die fachliche Qualifikation der Sachver­ständigen näher klärten und nachvollziehbar darlegten, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar seien und zur Entschei­dungs­findung beitragen können. Die Entscheidungen hielten selbst bei völliger Unver­wert­barkeit der sachver­ständigen Begutachtung verfas­sungs­ge­richt­licher Kontrolle stand, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Vater recht­fer­ti­genden Kindes­wohl­ge­fährdung aus den Entschei­dungs­gründen auch ohne Einbeziehung der Sachver­stän­di­ge­n­aussagen hinreichend nachvollziehbar ergäbe. Auch dies ist jedoch nicht der Fall.

Gerichte müssen Erzie­hungs­de­fizite und ungünstige Entwick­lungs­be­din­gungen sorgfältig prüfen und begründen

Die angegriffenen Entscheidungen verfehlen die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Gefah­ren­fest­stellung weiterhin unter anderem deshalb, weil sie zwar auf mögliche Defizite bei der Erzie­hungs­fä­higkeit des Beschwer­de­führers eingehen, ohne dass sich daraus aber ergibt, von welcher Art, Schwere und Wahrschein­lichkeit die deswegen befürchteten Beein­träch­ti­gungen des Kindes sind, und weshalb diese Gefahren so gravierend sind, dass sie eine Fremd­un­ter­bringung legitimieren. Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintritts­wahr­schein­lichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grund­recht­lichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern - wie hier - auf Erzie­hungs­de­fizite und ungünstige Entwick­lungs­be­din­gungen, aus denen die erhebliche Kindes­wohl­ge­fährdung nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folgt, müssen sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten. Dies ist hier nicht geschehen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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