18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.06.2014

Großeltern müssen bei der Auswahl eines Vormunds in Betracht gezogen werdenVorrang der Großeltern bei der Auswahl des Vormunds besteht, sofern dem Wohl des Kindes nicht anderweitig besser gedient ist

Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schließt auch familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind. Soweit tatsächlich eine engere familiäre Bindung besteht, haben Großeltern daher ein Recht darauf, bei der Auswahl eines Vormunds für ihr Enkelkind in Betracht gezogen zu werden. Ihnen kommt der Vorrang gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes anderweitig besser gedient ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­verfassungs­gerichts hervor.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine erste Enkeltochter der Beschwer­de­führerin kam 2001 zur Welt und wurde von ihrer Mutter, der Tochter der Beschwer­de­führerin, nach der Geburt in die Obhut der Beschwer­de­führerin gegeben. Im Jahr 2008 kam die zweite Enkeltochter zur Welt und lebte, zusammen mit der Mutter, zunächst im Haushalt der Beschwer­de­führerin. Im August 2011 zog die Mutter zu einem Freund und nahm das jüngere Kind mit sich. Im Wege der einstweiligen Anordnung entzog das Familiengericht der Mutter im Herbst 2011 die elterliche Sorge für beide Kinder und setzte zunächst das Jugendamt als Vormund ein. Im Dezember 2011 wechselte die jüngere Enkeltochter in eine Pflegefamilie, in der sie bis heute lebt. Im Haupt­sa­che­ver­fahren entzog das Familiengericht der Mutter mit Beschluss vom 8. Januar 2013 die elterliche Sorge für beide Töchter. Es bestellte die Beschwer­de­führerin zum Vormund für die ältere Tochter, für die jüngere Tochter hingegen das Jugendamt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht als unzulässig, da die Beschwer­de­führerin nicht beschwer­de­be­rechtigt sei.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Entscheidungen des Famili­en­ge­richts und des Oberlan­des­ge­richts die Beschwer­de­führerin nicht in ihren Grundrechten verletzen.

Großmutter kann bei Auswahl eines Vormunds in Betracht gezogen werden

Als Großmutter steht der Beschwer­de­führerin aufgrund des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG ein Recht darauf zu, bei der Auswahl eines Vormunds oder Ergän­zungs­pflegers in Betracht gezogen zu werden.

Schutz des Eltern­grundrecht steht grundsätzlich nur Eltern und nicht Großeltern zu

Auf das Eltern­grundrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) kann sich die Beschwer­de­führerin allerdings nicht berufen. Der Schutz dieses Grundrechts steht grundsätzlich nur den Eltern des Kindes zu. Zwar legen es das Eltern­grundrecht sowie das Grundrecht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in der Praxis regelmäßig nahe, Großeltern auf Wunsch der Eltern und des Kindes zum Vormund oder Ergän­zungs­pfleger des Enkelkindes zu bestellen. In Bezug auf Großeltern sind beide Grundrechte indessen lediglich Rechtsreflexe, die keinen eigenen grund­recht­lichen Schutz ihrer subjektiven Interessen begründen.

Schutz der Familie umfasst auch familiäre Bindungen zwischen Großeltern und Enkelkind

Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG umfasst jedoch familiäre Bindungen zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind. Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erzie­hungs­ge­mein­schaft der Kinder und ihrer Eltern. Darüber hinaus zielt das Famili­en­grundrecht generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen, wie sie auch zwischen erwachsenen Famili­en­mit­gliedern und auch - wenngleich regelmäßig weniger ausgeprägt - über mehrere Generationen hinweg zwischen den Mitgliedern einer Großfamilie bestehen können. Familiäre Bindungen sind im Selbst­ver­ständnis des Individuums regelmäßig von hoher Bedeutung und haben im Lebensalltag der Famili­en­mit­glieder häufig besondere praktische Relevanz.

Großeltern und sonstigen nahen Verwandten kommt bei Auswahl des Vormunds oder Ergän­zungs­pflegers Vorrang zu

Der grundrechtliche Schutz familiärer Beziehungen zwischen nahen Verwandten umfasst deren Recht, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergän­zungs­pflegers in Betracht gezogen zu werden, sofern tatsächlich eine engere familiäre Bindung zum Kind besteht. Die Vormundschaft oder Ergän­zungs­pfleg­schaft ermöglicht es den Verwandten, das Kind zu sich zu nehmen und in eigener Verantwortung zu betreuen und zu erziehen. Auf diese Weise können sie ihre familiäre Bindung zum Kind fortführen und verwandt­schaft­licher Verantwortung gerecht werden. Großeltern und sonstigen nahen Verwandten kommt daher bei der Auswahl des Vormunds oder Ergän­zungs­pflegers der Vorrang gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes, das für die Auswahl bestimmend ist, durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient ist.

Berück­sich­tigung naher Verwandter bei der Auswahl eines Vormunds in angegriffenen Entscheidungen ausreichend gewürdigt

Die angegriffenen Entscheidungen genügen den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 GG an die Berück­sich­tigung naher Verwandter bei der Auswahl eines Vormunds. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht überprüft die fachge­richtliche Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts im Ausgangsfall nach allgemeinen Grundsätzen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Ausle­gungs­fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen. Soweit das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bei der Überprüfung von Sorge­rechts­ent­zie­hungen einen strengeren Kontrollmaßstab anwendet, beruht dies auf dem besonderen verfas­sungs­recht­lichen Schutz der Eltern-Kind-Beziehung. Die Eingriff­sin­tensität der hier zu überprüfenden Entscheidung bleibt regelmäßig hinter der einer Trennung des Kindes von den Eltern zurück.

Kindeswohl ist im vorliegenden Fall beim Verbleib in der Pflegefamilie besser gedient als beim Wechsel zur Beschwer­de­führerin

Die angegriffenen Entscheidungen haben die Tragweite der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Belange der Beschwer­de­führerin nicht verkannt. Das Familiengericht ist von einer besonderen Stellung der Beschwer­de­führerin bei der Auswahl des Vormundes ausgegangen und hat deren Bestellung nicht von überzogenen Anforderungen abhängig gemacht. Es hat insbesondere nicht angenommen, dass die Beschwer­de­führerin erst dann auszuwählen wäre, wenn dem Kindeswohl damit im Vergleich zum Verbleib in der Pflegefamilie besser gedient wäre. Das Familiengericht ist vielmehr mit ohne Weiteres nachvoll­ziehbaren Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kindeswohl bei einem Verbleib in der Pflegefamilie besser gedient sei als bei einem Wechsel zur Beschwer­de­führerin.

Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht gezwungen, nahen Verwandten Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen

Die Beschwer­de­führerin ist nicht dadurch in Grundrechten verletzt, dass ihr die Möglichkeit der Beschwerde zum Oberlan­des­gericht versagt blieb. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht gezwungen, nahen Verwandten gegen die durch den Familienrichter getroffene Auswahl des Vormunds einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen. Das Grundgesetz sichert die Eröffnung des Rechtswegs, gewährleistet jedoch keinen Rechtsweg über mehrere Instanzen hinweg.

Fehlende Beschwer­de­be­rech­tigung verletzt Beschwer­de­führerin nicht in ihren Grundrechten

Auch die Auslegung von § 59 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), wonach der Beschwer­de­führerin als Großmutter hier keine Beschwer­de­be­rech­tigung zusteht, verletzt die Beschwer­de­führerin nicht in ihren Grundrechten. Nach § 59 Abs. 1 FamFG steht die Beschwerde demjenigen zu, der durch einen Beschluss in seinen Rechten beeinträchtigt ist. Zwar berührt die Auswah­l­ent­scheidung das Grundrecht der Beschwer­de­führerin aus Art. 6 Abs. 1 GG. Mit Blick darauf war sie bei der Auswahl des Vormunds vom Familiengericht auch grundsätzlich anzuhören. Das Oberlan­des­gericht hat sich jedoch der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs angeschlossen, die Großeltern in Verfahren, die die richterliche Bestellung eines Vormunds oder Ergän­zungs­pflegers für ihr Enkelkind zum Gegenstand haben, grundsätzlich keine Beschwer­de­be­fugnis einräumt. Diese Interpretation von § 59 Abs. 1 FamFG ist nicht willkürlich. Sie beruht auf nachvoll­ziehbarer systematischer Auslegung und trägt dem legitimen Ziel des Gesetzgebers Rechnung, den Kreis der Beschwer­de­be­rech­tigten überschaubar zu halten, um eine zügige Beendigung des gerichtlichen Verfahrens zu ermöglichen, was in sorge­recht­lichen Verfahren von besonderem Gewicht ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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