15.11.2024
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Dokument-Nr. 14074

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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.07.2012

Ausländische Staats­an­ge­höriger mit humanitären Aufent­halt­s­titeln haben Anspruch auf Bundes­erziehungs­geld und Bundes­el­terngeldAusschluss von staatlichen Leistungen verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat den Ausschluss ausländischer Staats­an­ge­höriger mit humanitären Aufent­halt­s­titeln vom Bundes­erziehungs­geld und vom Bundes­el­terngeld für verfas­sungs­widrig erklärt.

Nach dem bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Bundes­er­zie­hungs­geld­gesetz in der hier maßgeblichen Fassung von 2006 (BErzGG) und dem am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Bundes­el­terngeld- und Eltern­zeit­gesetz (BEEG) ist die Gewährung von Erziehungs- bzw. Elterngeld an ausländische Staats­an­ge­hörige davon abhängig, über welche Art von Aufent­halt­s­titeln die Betroffenen verfügen (§ 1 Abs. 6 BErzGG und § 1 Abs. 7 BEEG). Die zum unbefristeten Aufenthalt berechtigende Nieder­las­sungs­er­laubnis führt immer zur Anspruchs­be­rech­tigung. Hingegen sind die Inhaber einer befristeten Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich nur dann anspruchs­be­rechtigt, wenn die Aufent­halt­s­er­laubnis zur Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit berechtigt oder berechtigt hat. Vom Anspruch auf Erziehungs- oder Elterngeld auch dann grundsätzlich ausgenommen sind allerdings ausländische Staats­an­ge­hörige, denen der Aufenthalt aus völker­recht­lichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist. Für die Inhaber solcher humanitärer Aufent­halt­s­er­laubnisse gilt jedoch eine Rückaus­nah­me­re­gelung, wonach sie dann einen Anspruch auf Erziehungs- oder Elterngeld haben, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und eines der in § 1 Abs. 6 Nr. 3b BErzGG bzw. § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG genannten Merkmale der Arbeits­ma­rk­tin­te­gration erfüllen, das heißt im Bezugszeitraum entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind, Arbeits­lo­sengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen.

Sachverhalt

Die Klägerinnen und Kläger des Ausgangs­ver­fahrens verfügten während des streitigen Zeitraums über humanitäre Aufent­halt­stitel, waren zur Erwer­b­s­tä­tigkeit berechtigt und erfüllten auch das Aufent­halt­s­er­for­dernis, nicht jedoch die Voraussetzungen des § 1 Abs. 6 Nr. 3b BErzGG bzw. § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG. Ihre auf Gewährung von Erziehungs- bzw. Elterngeld gerichteten Klagen führten zur Vorlage durch das Bundes­so­zi­al­gericht, das die Regelungen in § 1 Abs. 6 Nr. 3b BErzGG und § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG für unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz hält.

BVerfG rügt Verstoß gegen allgemeinen Gleichheitssatz und gegen Verbot geschlechts­be­zogener Diskriminierung

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die vorgelegten Vorschriften wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und gegen das Verbot der geschlechts­be­zogenen Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG für nichtig erklärt.

Ungleich­be­handlung nicht gerechtfertigt

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die vorgelegten Regelungen benachteiligen die betroffenen ausländischen Eltern in verfas­sungs­widriger Weise (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie verwehren Inhabern humanitärer Aufent­halt­stitel, die die genannten Merkmale der Arbeits­ma­rk­tin­te­gration nicht erfüllen, eine Leistung, die andere Eltern mit identischem Aufent­halt­stitel erhalten. Diese Ungleich­be­handlung ist nicht gerechtfertigt.

Voraussetzungen haben grundsätzlich legitimes gesetz­ge­be­risches Ziel

Die genannten Voraussetzungen dienen zwar dem grundsätzlich legitimen gesetz­ge­be­rischen Ziel, Erziehungs- oder Elterngeld nur jenen ausländischen Staats­an­ge­hörigen zu gewähren, die sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten. Die unter­schiedliche Bleibedauer in Deutschland kann hier im Grundsatz eine Ungleich­be­handlung rechtfertigen, soweit der Gesetzgeber mit den Leistungen eine nachhaltige Bevöl­ke­rungs­ent­wicklung in Deutschland fördern will, weil dieses Ziel bei Gewährung an Personen, die das Bundesgebiet bald wieder verlassen, verfehlt würde.

Diffe­ren­zie­rungs­kri­terien zur Verwirklichung der Ziele ungeeignet

Die vom Gesetzgeber gewählten Diffe­ren­zie­rungs­kri­terien sind jedoch zur Verwirklichung dieses Ziels ungeeignet, weil sich mit ihnen die Aufent­haltsdauer der Betroffenen nicht vorhersagen lässt. a) Der Besitz einer humanitären Aufent­halt­s­er­laubnis allein ist kein hinreichendes Indiz für das Fehlen einer dauerhaften Aufent­halts­per­spektive. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass sich die formale Art des Aufent­halt­s­titels allein nicht als Grundlage einer Prognose über die Aufent­haltsdauer eignet. Ein Grund, von dieser Einschätzung abzuweichen, besteht nicht.

Sicherung des eigenen Lebens­un­terhalts bei Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland aus humanitären Gründen gemäß Aufent­halts­gesetz nicht zwingende Voraussetzung

Des Weiteren bilden auch die in den vorgelegten Normen genannten Merkmale der Arbeits­ma­rk­tin­te­gration keine hinreichende Grundlage für eine Prognose über die zu erwartende Aufent­haltsdauer. Sie haben zwar eine gewisse Aussagekraft bezüglich der Arbeits­ma­rk­tin­te­gration der Betroffenen im zeitlichen Umfeld der Geburt ihres Kindes und mögen insoweit als Indiz für eine dauerhafte Bleibe­per­spektive zu werten sein. Dies rechtfertigt jedoch nicht den Umkehrschluss, dass denjenigen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, eine dauerhafte Aufent­halts­per­spektive abzusprechen ist. Vielmehr kehren Inhaber humanitärer Aufent­halt­s­er­laubnisse regelmäßig nicht in ihr Herkunftsland zurück, solange die bei der Erteilung der Aufent­halt­s­er­laubnis maßgeblichen Gründe fortbestehen, ohne dass es dabei auf die Arbeits­ma­rk­tin­te­gration ankäme. Des Weiteren ist die Nichterfüllung der genannten Kriterien auch für eine Verlängerung der betroffenen Aufent­halt­s­er­laubnisse nicht von solcher Bedeutung, dass sich daraus eine negative Bleibeprognose ableiten ließe. Denn das Aufent­halts­gesetz macht die Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland aus humanitären Gründen nicht zwingend von der Sicherung des eigenen Lebens­un­terhalts abhängig.

Nichterfüllung der beschäf­ti­gungs­be­zogenen Voraussetzungen lässt nicht zwingend auf fehlende dauerhaften Bleibe­per­spektive schließen

An einer dauerhaften Bleibe­per­spektive fehlt es auch nicht deshalb, weil bei Nichterfüllung der beschäf­ti­gungs­be­zogenen Voraussetzungen keine Aussicht auf eine Nieder­las­sungs­er­laubnis und den damit verbundenen unbefristeten Aufenthalt bestünde. Dass die Kriterien im Zeitraum des potenziellen Erziehungs- und Eltern­geld­bezugs nicht erfüllt werden, indiziert nicht, dass es auch später nicht zur Erteilung einer Nieder­las­sungs­er­laubnis kommen wird. Für die im Rahmen der Erteilung einer Nieder­las­sungs­er­laubnis anzustellende Prognose, ob der Betroffene seinen Lebensunterhalt in Zukunft ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel aufbringen kann, sind die in den vorgelegten Normen verwendeten Kriterien nicht geeignet. Zum einen nehmen sie lediglich den kurzen Bezugszeitraum in den Blick und lassen eine Arbeits­ma­rk­tin­te­gration in anderen Zeiträumen außer Betracht. Zum zweiten stellen die Voraussetzungen damit auf einen Zeitabschnitt - nämlich die ersten 14 bzw. 24 Lebensmonate des Kindes - ab, in dem sowohl die Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit als auch die für einen Anspruch auf Arbeits­lo­sengeld I erforderliche tatsächliche Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt gerade wegen der Geburt des Kindes eltern­spe­zi­fische Schwierigkeiten aufwirft. Dies gilt ebenso für die dritte Alternative, die Inanspruchnahme von Elternzeit, die im Zeitraum nach der Geburt eines Kindes nahezu unerfüllbar ist, sofern nicht bereits vor der Geburt ein Arbeits­ver­hältnis begründet wurde, das während des Bezugszeitraums fortbesteht.

Voraussetzung der Erwer­b­s­tä­tigkeit bzw. zur Arbeits­ma­rkt­ver­füg­barkeit widersprüchlich

Eine Erwer­b­s­tä­tigkeit bzw. die Arbeits­ma­rkt­ver­füg­barkeit in den ersten Lebensmonaten eines Kindes zu verlangen, steht außerdem im Widerspruch zu dem mit der Gewährung von Eltern- und Erziehungsgeld verfolgten gesetz­ge­be­rischen Ziel, Eltern die Möglichkeit zu geben, sich der Betreuung ihrer Kinder in deren ersten Lebensmonaten ohne finanzielle Not selbst zu widmen.

Verstoß gegen Verbot geschlechts­be­zogener Benachteiligung

Die vorgelegten Regelungen verstoßen überdies gegen das Verbot der geschlechts­be­zogenen Benachteiligung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Sie benachteiligen Frauen im Vergleich zu Männern, weil sie den Anspruch auf Erziehungs- oder Elterngeld von arbeits­ma­rkt­be­zogenen Voraussetzungen abhängig machen, die Frauen schwerer erfüllen können als Männer. So stehen Frauen aufgrund mutter­schutz­recht­licher Vorschriften - anders als Männer - in den ersten acht Wochen nach der Geburt eines Kindes dem Arbeitsmarkt aus rechtlichen Gründen nicht zur Verfügung. Zudem ist stillenden Müttern die Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit praktisch nur unter erschwerten Umständen möglich.

Eine Regelung, die weder an das Geschlecht anknüpft noch Merkmale verwendet, die von vornherein nur Frauen oder nur Männer treffen können, die aber Frauen aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Umstände der Mutterschaft gegenüber Männern benachteiligt, unterliegt den strengen Recht­fer­ti­gungs­an­for­de­rungen der geschlechts­be­zogenen Benachteiligung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Daran sind somit auch die vorgelegten Regelungen zu messen. Zwar sind sie geschlechts­neutral formuliert; jedoch ist die aus ihnen resultierende Benachteiligung von Frauen eng mit den rechtlichen und biologischen Umständen der Mutterschaft verbunden. Diese Benachteiligung von Frauen lässt sich schon deshalb nicht rechtfertigen, weil sich mit den genannten Diffe­ren­zie­rungs­merkmalen die gesetz­ge­be­rische Absicht, die Fälle voraussichtlich langer Aufent­haltsdauer zu erfassen, nicht erreichen lässt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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