18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil21.07.2015

Bundes­verfassungs­gericht erklärt Betreuungsgeld für nichtigBundes­ge­setzgeber fehlt Gesetz­gebungs­kompetenz für Betreuungsgeld

Dem Bundes­ge­setzgeber fehlt die Gesetz­gebungs­kompetenz für das Betreuungsgeld. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden. Die §§ 4 a bis 4d des Bundes­el­terngeld- und Eltern­zeit­ge­setzes, die einen Anspruch auf Betreuungsgeld begründen, sind daher nichtig. Sie können zwar der öffentlichen Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zugeordnet werden, auf die sich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes erstreckt. Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG für die Ausübung dieser Kompetenz durch den Bund liegen jedoch nicht vor. Das Urteil ist einstimmig ergangen.

Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg. Er wendet sich gegen die mit dem Betreu­ungs­geld­gesetz vom 15. Februar 2013 eingefügten §§ 4 a bis 4d des Bundes­el­terngeld- und Eltern­zeit­ge­setzes. Diese Regelungen sehen im Wesentlichen vor, dass Eltern in der Zeit vom 15. Lebensmonat bis zum 36. Lebensmonat ihres Kindes einkom­men­s­u­n­ab­hängig Betreuungsgeld in Höhe von zunächst 100 Euro und mittlerweile 150 Euro pro Monat beziehen können, sofern für das Kind weder eine öffentlich geförderte Tages­ein­richtung noch Kinder­ta­gespflege in Anspruch genommen werden.

Begriff "öffentliche Fürsorge" ist nicht eng auszulegen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Regelungen zum Betreuungsgeld dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zuzuordnen sind. Ein anderer Kompetenztitel kommt nicht in Betracht. Der Begriff "öffentliche Fürsorge" ist nicht eng auszulegen. Er setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potentieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine - sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute - Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt. Dies ist beim Betreuungsgeld der Fall.

Bund steht Gesetz­ge­bungsrecht nur bei erforderlicher bundes­ge­setz­licher Regelung zu

Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG sind jedoch nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift hat der Bund - u. a. im Bereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG - das Gesetz­ge­bungsrecht nur, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebens­ver­hältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaft­s­einheit im gesamt­s­taat­lichen Interesse eine bundes­ge­setzliche Regelung erforderlich machen. Die Regelungen sind nicht zur Herstellung gleichwertiger Lebens­ver­hältnisse im Bundesgebiet erforderlich.

Bloßes Ziel der allgemeinen Verbesserung der Lebens­ver­hältnisse nicht ausreichend

Dies wäre dann der Fall, wenn sich die Lebens­ver­hältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundess­taatliche Sozialgefüge beein­träch­ti­gender Weise auseinander entwickelt hätten oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnete. Das bloße Ziel, bundes­ein­heitliche Regelungen in Kraft zu setzen oder eine allgemeine Verbesserung der Lebens­ver­hältnisse zu erreichen, genügt hierfür nicht.

Diesen Anforderungen genügen die Bestimmungen über ein bundes­ein­heit­liches Betreuungsgeld nicht. Insbesondere bilden die in der Begründung des Gesetzentwurfs niedergelegten Erwägungen insoweit keine tragfähige Grundlage.

Eltern in Bayern, Sachsen und Thüringen können neben Elterngeld zusätzliches Landes­er­zie­hungsgeld beziehen

Zwar gibt es gegenwärtig nur in Bayern, Sachsen und Thüringen ähnliche staatliche Leistungen. Dies führt jedoch nicht zu einer erheblichen Schlech­ter­stellung von Eltern in jenen Ländern, die solche Leistungen nicht gewähren. Ohnehin könnte das Bundes­be­treu­ungsgeld ein bundesweit gleichwertiges Förde­rungs­niveau von Familien mit Kleinkindern schon deshalb nicht herbeiführen, weil keine Anrech­nungs­vor­schrift bezüglich bereits bestehender Landes­re­ge­lungen existiert, so dass Eltern neben dem Bundes­be­treu­ungsgeld in den drei genannten Ländern weiterhin zusätzlich das Landes­er­zie­hungsgeld beziehen können.

Gleich­wer­tigkeit der Lebens­ver­hältnisse bezieht sich auf Ausgleich von Nachteilen für Einwohner nicht auf Ausgleich sonstiger Ungleichheiten

Die Erfor­der­lichkeit des Betreu­ungs­geldes zur Herstellung gleichwertiger Lebens­ver­hältnisse ergibt sich auch nicht daraus, dass der Ausbau der Kinder­ta­ges­be­treuung von Bund und Ländern seit Jahren gefördert wird und es darum einer Alternative zur Inanspruchnahme von Betreuung durch Dritte bedürfte. Das Merkmal der Gleich­wer­tigkeit der Lebens­ver­hältnisse zielt auf den Ausgleich von Nachteilen für Einwohner einzelner Länder zur Vermeidung daraus resultierender Gefährdungen des bundess­taat­lichen Sozialgefüges, nicht aber auf den Ausgleich sonstiger Ungleichheiten.

Ansprüche auf staatliche Leistungen lassen sich nicht aus Gebot zur Unterstützung Eltern mit Pflege- und Erzie­hungs­leistung herleiten

Aus den Grundrechten ergibt sich - ungeachtet der Frage, ob dies überhaupt Bedeutung hinsichtlich der Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG entfalten könnte - nichts anderes. Konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen lassen sich aus dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, die Pflege- und Erzie­hungs­leistung der Eltern zu unterstützen, nicht herleiten. Auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet weder dem Bundes- noch dem Landes­ge­setzgeber, ein Betreuungsgeld zu gewähren, um eine vermeintliche Benachteiligung gegenüber jenen Eltern zu vermeiden, die einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz in Anspruch nehmen. Das Angebot öffentlich geförderter Kinderbetreuung steht allen Eltern offen. Nehmen Eltern es nicht in Anspruch, verzichten sie freiwillig, ohne dass dies eine verfas­sungs­rechtliche Kompen­sa­ti­o­ns­pflicht auslöste.

Betreuungsgeld ist keine Ersatzleistung für fehlenden Platz in Betreu­ungs­ein­richtung

Dass bis heute zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Verfügbarkeit öffentlicher und privater Angebote im Bereich der frühkindlichen Betreuung bestehen, vermag die Erfor­der­lichkeit des Betreu­ungs­geldes zur Herstellung gleichwertiger Lebens­ver­hältnisse ebenfalls nicht zu begründen. Denn das Betreuungsgeld ist nicht als Ersatzleistung für den Fall ausgestaltet, dass ein Kleinkind keinen Platz in einer Betreu­ungs­ein­richtung erhält. Vielmehr genügt die Nicht­i­n­an­spruchnahme eines Platzes auch dann, wenn ein solcher vorhanden ist. Vor allem aber besteht ein einklagbarer Leistungs­an­spruch für den Zugang zu öffentlich geförderten Betreu­ungs­ein­rich­tungen, der nicht unter Kapazi­täts­vor­behalt gestellt ist. Daher ist das Betreuungsgeld von vornherein nicht auf die Schließung einer Verfüg­ba­r­keitslücke gerichtet.

Schließlich vermag auch der gesell­schafts­po­li­tische Wunsch, die Wahlfreiheit zwischen Kinderbetreuung innerhalb der Familie oder aber in einer Betreu­ungs­ein­richtung zu verbessern, für sich genommen nicht die Erfor­der­lichkeit einer Bundes­ge­setz­gebung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG zu begründen. Auf die Frage, ob das Betreuungsgeld überhaupt geeignet ist, dieses Ziel zu fördern, kommt es daher nicht an.

Bereitstellung von Betreuungsgeld nicht zur Wahrung der Wirtschaft­s­einheit erforderlich

Das Betreuungsgeld ist nicht zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaft­s­einheit erforderlich. Der Annahme, die angegriffene Bundesregelung sei zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich, steht bereits entgegen, dass sie zusätzliche vergleichbare Leistungen in einzelnen Ländern bestehen lässt, so dass eine Rechts­ver­ein­heit­lichung ohnehin nicht herbeigeführt wird. Die bundes­ge­setzliche Bereitstellung von Betreuungsgeld ist auch nicht zur Wahrung der Wirtschaft­s­einheit erforderlich, denn unter­schiedliche Landes­re­ge­lungen oder das Untätigbleiben der Länder haben keine erkennbaren erheblichen Nachteile für die Gesamt­wirt­schaft mit sich gebracht.

Betreuungsgeld fördert nicht Erwer­bs­be­tei­ligung von Eltern

Die Erwägungen aus dem Gesetz­ge­bungs­ver­fahren zum Kinder­för­de­rungs­gesetz sind auf das Betreuungsgeld nicht übertragbar. Während dort auf den Zusammenhang zwischen Kinderbetreuung und Beteiligung von Eltern am Arbeitsleben abgestellt und damit an die Bedeutung der Regelungen als Arbeitsmarkt- und Wirtschafts­faktor angeknüpft wurde, fördert das hier zu beurteilende Betreuungsgeld die Erwer­bs­be­tei­ligung von Eltern nicht. Insbesondere ist es weder dazu bestimmt noch ist es angesichts seiner Höhe dazu geeignet, eine private, nicht öffentlich geförderte Kinderbetreuung zu finanzieren.

Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeldes nicht auf Betreuungsgeld übertragbar

Auch die Erwägungen des Gesetzentwurfs zur Einführung des Elterngeldes, in dem das bundess­taatliche Regelungs­in­teresse vor allem auf die Arbeits­ma­rkt­effekte eltern­schafts­be­dingter Auszeiten gestützt wurde, sind nicht auf das Betreuungsgeld übertragbar. Das Elterngeld stellt mit einer Höhe von 67 % des vorherigen Einkommens einen erheblichen Faktor für die Frage einer Unterbrechung der Erwer­b­s­tä­tigkeit dar. Dass das Betreuungsgeld mit einer monatlichen Zahlung von 150 Euro geeignet wäre, einen auch nur annähernd ähnlichen Unter­bre­chungs­effekt zu entfalten, ist nicht erkennbar.

Fürsor­ge­leis­tungen müssen jede für sich genommen gesetzlichen Voraussetzungen genügen

Auch die Überlegung, das Betreuungsgeld sei im Verbund mit dem Kinder­för­de­rungs­gesetz kompe­tenz­rechtlich als Ausdruck eines Gesamtkonzepts zu betrachten, vermag die Erfor­der­lichkeit der angegriffenen Regelungen nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht zu begründen. Will der Bundes­ge­setzgeber verschiedene Arten von Leistungen der öffentlichen Fürsorge begründen, muss grundsätzlich jede Fürsor­ge­leistung für sich genommen den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen.

Regelungen des Kinder­för­de­rungs­ge­setzes verlieren durch Wegfall des Betreu­ungs­geldes nichts von ihrer Tragfähigkeit

Der hier zu entscheidende Fall lässt davon keine Ausnahme zu. Die angegriffenen Regelungen genügen nicht deshalb den Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG, weil sie in solch untrennbarem Zusammenhang mit anderen bundesrechtlich geregelten Förder­in­stru­menten stünden, dass sich deren Erfor­der­lichkeit ausnahmsweise auf die angegriffenen Regelungen erstreckte. Die Regelungen des Kinder­för­de­rungs­ge­setzes verlören nichts von ihrer Tragfähigkeit, wenn das Betreuungsgeld entfiele. Auf die Frage, ob die Erwähnung des Betreu­ungs­geldes bereits im Kinder­för­de­rungs­gesetz belegt, dass schon dort ein Gesamtkonzept zur Förderung der Betreuung von Kleinkindern angelegt war, kommt es deswegen nicht an. Mit dieser Absichts­er­klärung des Gesetzgebers wird zwar eine konzeptionelle Verbindung der Regelungen dokumentiert. Maßgeblich ist aber nicht die konzeptionelle Verbindung, sondern die objektive Untrennbarkeit der Regelungen, an der es hier fehlt.

Bestimmungen wegen fehlender Gesetz­ge­bungs­kom­petenz nichtig

Die vom Antragsteller aufgeworfene Frage, ob die angegriffenen Vorschriften mit den Grundrechten vereinbar sind, bedarf keiner Antwort, weil die Bestimmungen wegen der fehlenden Gesetz­ge­bungs­kom­petenz nichtig sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil21331

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI