24.11.2024
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Bundessozialgericht Urteil27.06.2017

Borre­li­e­n­in­fektion eines Forstwirts für Anerkennung einer Berufskrankheit allein nicht ausreichendNicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit kommt Krankheitswert im Rechtssinne zu

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat entschieden, dass für die Anerkennung einer Berufskrankheit eine Borre­li­e­n­in­fektion bei einem Forstwirt allein nicht ausreichend ist. Das Gericht verwies darauf, dass hierfür nach aktuellem medizinisch-wissen­schaft­lichem Erkenntnisstand sowohl die Borre­li­e­n­in­fektion als auch die typischen klinischen Symptome einer Borreliose im Vollbeweis vorliegen müssen.

Der 1959 geborene Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens ist als forst­wirt­schaft­licher Unternehmer bei der Beklagten unfall­ver­sichert und bewirtschaftet seit Jahren regelmäßig 4,28 ha eigenen Wald. Im Juni 2008 stellte sich der Kläger wegen eines Zeckenbisses bei einem Arzt vor, dem er bereits 2007 über einen Zeckenstich am Hals berichtet hatte. Laut Laborbericht waren im Immunoblot wenige spezifische Antikörper gegen Borrelia burgdorferi nachweisbar inklusive Spätmarker; der serologische Befund passe sowohl zu einer Serumnarbe nach ausgeheilter Infektion als auch zu einer aktiven Infektion der Stadien 2 oder 3. Im Jahre 2010 teilte der Kläger der Rechts­vor­gängerin der Beklagten mit, dass er im Mai 2007 nach Arbeiten im eigenen Wald einen Zeckenbiss bemerkt habe; Hautver­än­de­rungen seien in der Umgebung der Stichstelle nicht aufgetreten. Die Beklagte verneinte das Vorliegen einer Berufskrankheit 3102 ("Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten") sowie Ansprüche auf Leistungen (Bescheid vom 18. Januar 2011). Im Wider­spruchs­ver­fahren legte der Kläger den Arztbrief eines Borre­lio­se­zentrums vor, wonach das Bild einer chronisch aktiven Borreliose mit allen Vegeta­ti­o­ns­formen bestehe sowie Zeichen einer chronisch systemischen Entzündung, einer mäßigen Immunkompetenz und zirkulierende Immunkomplexe als Zeichen eines rheumatisch-entzündlichen Prozesses vorhanden seien. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen, weil die Befunde des Borre­lio­se­zentrums allesamt schul­me­di­zinisch und wissen­schaftlich nicht anerkannt seien (Wider­spruchs­be­scheid vom 22. September 2011).

Bloße Aufnahme von Erregern oder Bildung von Antikörpern für Anerkennung als Berufskrankheit nicht ausreichend

Das Sozialgericht Landshut wies die Klage nach Einholung von Sachver­stän­di­gen­gut­achten ab, weil Hinweise auf eine krank­heits­aktive Borreliose fehlten und der Antikör­per­befund allein noch keine Krankheit im Sinne der Berufs­krank­heiten-Verordnung sei. Das Bayerische Landes­so­zi­al­gericht wies die Berufung des Klägers zurück. Der Kläger sei bei seiner versicherten Tätigkeit als Forstwirt einem deutlich erhöhten Infek­ti­o­ns­risiko für Borreliose ausgesetzt gewesen. Eine Lyme-Borreliose sei bei ihm aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit vorhanden; insbesondere reiche die nachgewiesene Borre­li­e­n­in­fektion allein nicht aus, um eine Berufskrankheit 3102 anzuerkennen. Krankheit im Sinne des § 9 SGB VII sei ein regelwidriger Zustand von Körper, Geist oder Seele. Dagegen führe weder die bloße Aufnahme von Erregern in den Körper noch die körpereigene Bildung von Antikörpern gegen diesen Erreger zu einem regelwidrigen Gesund­heits­zustand und damit zu einer Krankheit im Sinne des Berufs­krank­heiten-Rechts. Vielmehr sei neben den Einwirkungen und der durchaus positiven Abwehr der Erreger eine negative körperliche Reaktion mit Krankheitswert erforderlich, die den Beschreibungen der jeweiligen Berufskrankheit-Tatbestände bzw. den hierzu erlassenen Merkblättern und wissen­schaft­lichen Begründungen entspreche.

Positiver Nachweis borre­li­en­spe­zi­fischer Antikörper allein belegt keine aktive Infektion

Unter Berück­sich­tigung des Verord­nungs­textes, der Entste­hungs­ge­schichte und des Gesamt­zu­sam­menhangs setze die Feststellung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit 3102 den labor­tech­nischen Nachweis einer Borre­li­e­n­in­fektion und einen klinischen Befund voraus, der zum Krankheitsbild der Borreliose passe. Zwar sei hier eine Borre­li­e­n­in­fektion serologisch bewiesen. Allein der positive Nachweis borre­li­en­spe­zi­fischer Antikörper belege aber keine aktive Infektion mit dem Bakterium Borrelia burgdorferi, weil nach der entsprechenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Neuroborreliose, auf die das Merkblatt u.a. verweise, Borre­li­e­n­in­fek­tionen mit asympto­ma­tischer Serokonversion vorkämen und über Jahre anhaltende erhöhte ImmunglobulinG- und ImmunglobulinM-Anti-Körpertiter (in Serum oder Liquor) nach ausreichend behandelter Borreliose bei gesunden Personen keine Seltenheit darstellten. Der überwiegenden Mehrzahl infizierter Personen gelinge es, die Infektion mit der eigenen Immunabwehr durch Bildung der gegebenenfalls jahrzehntelang messbaren Antikörper erfolgreich abzuwehren, so dass sie zu keinem Zeitpunkt an Borreliose erkrankten. Man spreche in diesen Fällen von einer sogenannten Seronarbe. Soweit das Merkblatt als typische Krank­heits­bilder einer Lyme-Borreliose u.a. "wandernde Arthralgien" und "Herzbeschwerden" benenne, hätten die beim Kläger vorhandenen Gelenk­be­schwerden und Herzrhyth­muss­tö­rungen gerade andere Ursachen.

Revision vor dem BSG erfolglos

Die hiergegen gerichtete Revision hatte vor dem Bundes­so­zi­al­gericht keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit 3102 hat, weil er nicht an einer Krankheit im Sinne des § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII i.V.m Berufskrankheit 3102 leidet. Dahinstehen kann daher, ob dem Landes­so­zi­al­gericht insoweit zu folgen gewesen wäre, als es für die "Einwirkung", die im Vollbeweis vorliegen muss, hat ausreichen lassen, dass der Kläger - ohne konkreten Nachweis von Zeckenstichen gerade bei der versicherten Tätigkeit - als Forstwirt generell "einem erhöhten Risiko für Borreliose" ausgesetzt war. Denn die Anerkennung der Berufskrankheit 3102 setzt jedenfalls voraus, dass nach aktuellem medizinisch-wissen­schaft­lichem Erkenntnisstand sowohl die Borre­li­e­n­in­fektion als auch die typischen klinischen Symptome einer Borreliose im Vollbeweis vorliegen.

Leitsymptome müssen mit hinreichender Wahrschein­lichkeit auf Infektion zurückzuführen sein

Weiterhin ist erforderlich, dass diese Leitsymptome mit hinreichender Wahrschein­lichkeit auf die Infektion zurückzuführen sind. Die borre­lio­se­ty­pischen Gelenk­be­schwerden in mehreren Körperregionen, unter denen der Kläger erwiesenermaßen leidet, beruhen indes nach den bindenden Feststellungen des Landes­so­zi­al­ge­richts nicht auf der nachgewiesenen Borre­li­e­n­in­fektion, sondern auf degenerativen Veränderungen. Ebenfalls ist es revisi­ons­rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landes­so­zi­al­gericht die Kausalität zwischen der Borre­li­e­n­in­fektion und dem Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie verneint hat, weil diese Erkrankung für eine Lyme-Karditis völlig untypisch ist, in der Altersgruppe des Klägers häufig ohne benennbare Ursache auftritt, sich erst vier Monate nach dem Zeckenstich manifestiert hat, eine zweimalige Antibi­o­ti­ka­therapie erfolglos geblieben ist und Schild­drü­sen­probleme mit entsprechender Medikation bestehen, die als Nebenwirkung Herzrhyth­muss­tö­rungen hervorrufen kann.

Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi kommt kein Krankheitswert im Rechtssinne zu

Die symptomlose Borre­li­e­n­in­fektion allein lässt sich nicht unter den Krank­heits­begriff des § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII und den Tatbestand der Berufskrankheit 3102 subsumieren. Wie in der Sozia­l­ver­si­cherung üblich, ist auch im Berufs­krank­heiten-Recht unter Krankheit ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand zu verstehen. "Regelwidrig" ist jeder Zustand, der von der Norm abweicht (normativer Krank­heits­begriff), die ihrerseits durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägt ist. "Gesundheit" wiederum ist derjenige Zustand, der dem Einzelnen die Ausübung der (aller) körperlichen Funktionen ermöglicht. Folglich kommt nicht schon jeder körperlichen Regelwidrigkeit (hier: Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi) Krankheitswert im Rechtssinne zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körper­funk­tionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krank­heits­begriff). Ausgehend von diesem normativ-funktionellen Krank­heits­begriff reicht die bloße Aufnahme schädigender Substanzen in den Körper allein nicht aus. Vielmehr ist es grundsätzlich notwendig, dass diese Einwirkung über zunächst rein inner­kör­perliche Reaktionen (im Sinne normab­wei­chender physiologischer oder biologischer Prozesse) oder Struk­tur­ver­än­de­rungen hinaus zu (irgend)einer Funkti­o­ns­s­törung führt. Dies ist beim Kläger nicht der Fall.

Anerkennung des HI-Virus als Berufskrankheit nicht mit Borreliose-Virus vergleichbar

Soweit die Revision geltend macht, dass das Bundes­so­zi­al­gericht bereits bei der nachgewiesenen Infektion mit dem HI-Virus vom Vorliegen einer Berufskrankheit ausgegangen sei, lässt sie unbeachtet, dass es nach einer HIV-Infektion meist zu ersten Krank­heits­zeichen (z.B. Fieber, Nachtschweiß, Abgeschla­genheit, Hautausschläge, Gelenkschmerzen usw.) kommt, während die Infektion mit Borrelia burgdorferi typischerweise symptomlos verläuft. Zudem handelt es sich bei der Ansteckung mit dem HI-Virus um eine Infektion, die ohne ärztliche Behandlung zu einer lebens­be­dro­henden AIDS-Erkrankung führen kann, weil das körpereigene Immunsystem allein regelmäßig nicht in der Lage ist, die Infek­ti­o­ns­erreger abzuwehren. Dagegen erkrankt die Mehrzahl der Menschen mit dem Nachweis borre­li­en­spe­zi­fischer Antikörper nicht an Borreliose, weil es ihrer Immunabwehr - wie hier - gelingt, die Infektion erfolgreich zu bekämpfen.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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