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Dokument-Nr. 29348

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Urteil23.10.2020Verfassungsgericht BrandenburgVfgBbg 9/19 und VfgBbg 55/19
ergänzende Informationen

Verfassungsgericht Brandenburg Urteil23.10.2020

Brandenburger Verfas­sungs­gericht kippt ParitätsgesetzParitätsgesetz verfas­sungs­widrig

Das Verfas­sungs­gericht des Landes Brandenburg hat seine Urteile in den Organstreit­verfahren des Landesverbandes der NPD (VfGBbg 9/19) sowie des Landesverbandes der AfD und in Verfassungs­beschwerde­verfahren von vier Partei­mit­gliedern der AfD (VfGBbg 55/19) verkündet. Die Verfahren waren am 20. August 2020 gemeinsam verhandelt worden.

Sie betreffen das sogenannte Paritätsgesetz (Zweites Gesetz zur Änderung des Branden­bur­gischen Landes­wahl­ge­setzes - Parité-Gesetz (GVBl.I/19, [Nr. 1]), das die politischen Parteien verpflichtet, bei der Aufstellung ihrer Landeslisten für die Wahlen zum Landtag Brandenburg abwechselnd Frauen und Männer zu berücksichtigen. Im Ergebnis hat das Verfas­sungs­gericht eine Verletzung der verfas­sungs­mäßigen Rechte der NPD und der einzelnen Beschwer­de­führer und Beschwer­de­füh­re­rinnen festgestellt und die Vorschriften für nichtig erklärt. Sie finden daher bei der nächsten Landtagswahl keine Anwendung.

Verfas­sungs­gericht sieht die NPD in ihrer Organisations- und Programm­freiheit, der Wahlvor­schlags­freiheit verletzt

Das Verfas­sungs­gericht sieht die NPD in ihrer Organisations- und Programm­freiheit, der Wahlvor­schlags­freiheit der Partei und der Chancen­gleichheit der Parteien verletzt (VfGBbg 9/19). Der Grundsatz der Freiheit der Wahl gelte auch für Parteien bereits im Vorfeld der Wahl. Es sei ihre grundlegende Aufgabe, u. a. durch Aufstellung von Kandidaten und Kandi­da­ten­listen zu den Landtagswahlen, die Offenheit des Willens­bil­dungs­pro­zesses vom Volk hin zu den Staatsorganen zu gewährleisten. Dieser Prozess müsse frei von inhaltlicher staatlicher Einflussnahme bleiben. Durch das Paritätsgesetz entziehe der Gesetzgeber dem demokratischen Willens­bil­dungs­prozess einen wesentlichen Teil, indem er auf die Zusammensetzung der Listen Einfluss nehme. Die Vorgabe der paritätischen Listenbesetzung könne faktisch den Aus­schluss der Aufstellung bestimmter Bewerberinnen und Bewerber zur Folge haben. Bei Parteien, die ein sehr unausgewogenes Geschlech­ter­ver­hältnis haben, könnte sie zudem zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Aufstellung abwechselnd besetzter Listen führen. Das habe Einfluss auf die Chancen der Parteien bei der Wahl. Außerdem verwische die Pflicht zur Aufstellung abwechselnd besetzter Listen die Unterschiede in den Partei­pro­grammen. Den Parteien stehe es frei, sich im Rahmen ihrer Programmatik dem Ziel der Förderung der Gleich­be­rech­tigung mehr oder weniger zu verschreiben.

Listenvorgabe Mann / Frau stellt eine Modifikation des Demokra­tie­prinzips dar

Die angegriffenen Regelungen seien weder durch eine dem Gesetzgeber grundsätzlich obliegende Ausgestaltung des Wahlverfahrens noch durch das Ziel, den Frauenanteil im Landtag anzuheben, legitimiert. Die Verfas­sungs­ordnung des Landes Brandenburg bekenne sich zwar ausdrücklich zur Gleich­be­rech­tigung von Frauen und Männern und verbinde dies mit einer Verpflichtung des Landes, für deren Gleichstellung - auch - im öffentlichen Leben zu sorgen. Änderungen im Wahlrecht, die Auswirkungen auf das Demokra­tie­prinzip in seiner bisher verfassten Form haben, bedürften jedoch einer Entscheidung des Verfas­sungs­ge­setz­gebers und seien dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogen. Die vom Paritätsgesetz berührten Rechte der Freiheit der Parteien sowie der Gleichheit und Freiheit der Wahl seien Ausprägungen des Demokra­tie­prinzips. Dem Demokra­tie­prinzip der Verfassung des Landes Brandenburg liege aber der Grundsatz der Gesam­tre­prä­sen­tation zu Grunde. Nach diesem Prinzip seien die Abgeordneten nicht einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevöl­ke­rungs­­­grup­pe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verant­wor­t­lich. Diesem Verständnis widerspreche die Idee, dass sich in der Zusam­­men­­setzung des Parlaments auch diejenige der (wahlbe­rech­tigten) Bevöl­ke­rung in ihren vielfältig einzuteilenden Gruppen, Schichten oder Klassen wider­spie­geln soll. Gesetzliche Regelungen, die eine jeweils hälftige Verteilung der Landtagssitze an Frauen und Männer anordnen oder durch Listenvorgaben fördern sollen, würden daher zugleich eine Modifikation des Demokra­tie­prinzips bedeuten. Diese sei durch einfaches Gesetz nicht möglich. Aus der Landes­ver­fassung ergebe sich, dass sich die Willensbildung mit Hilfe der Wahlen frei von staatlicher Einflussnahme vom Volk aus zu vollziehen habe. Der Staat habe sich in diesem gesamten Prozess inhaltlicher Vorgaben zu enthalten. Aus dem gleichen Grund sei die Ausge­stal­tungs­be­fugnis des Gesetzgebers in Bezug auf den Ablauf der Wahlen und die Konkretisierung der Wahlrechts­grundsätze überschritten. Dieses Ziel habe der Gesetzgeber mit dem Paritätsgesetz ohnehin nicht verfolgt; er habe vielmehr ausdrücklich die Gleich­be­rech­tigung von Mann und Frau fördern wollen.

Verletzung der Grundrechte auf Gleichheit der Wahl

Die gegen das Gesetz gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden der AfD-Mitglieder hatten ebenfalls im Wesentlichen Erfolg (VfGBbg 55/19). Das Verfas­sungs­gericht stellte eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Gleichheit der Wahl in der Ausprägung als passive Wahlrechts­gleichheit und des Verbots der Ungleich­be­handlung wegen des Geschlechts fest und erklärte die Vorschriften, die eine paritätische Besetzung der Wahllisten fordern, für nichtig.

Das Verfas­sungs­gericht stellte klar, dass es sich nach der Verfassung des Landes Brandenburg bei den Wahlrechts­grund­sätzen, wonach Wahlen allgemein, unmittelbar, gleich, frei und geheim sind, um rügefähige Grundrechte handele. Das gleiche Recht der Staatsbürger zu wählen und gewählt zu werden sei eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung und im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl zum Parlament zu verstehen. Die Gleichheit bei der Wählbarkeit (passive Wahlrechts­gleichheit) sei für die Beschwer­de­führer und Beschwer­de­füh­re­rinnen mit den Vorgaben des Paritäts­ge­setzes nicht mehr gewährleistet, weil es ihnen ?- anders als Personen des jeweils anderen Geschlechts -? den Zugang zu bestimmten Listenplätzen bzw. Vorlisten bei der inner­par­tei­lichen Kandi­da­ten­auf­stellung verwehre, den Zugang zu einer Landesliste überhaupt verhindern könne und Personen des dritten Geschlechts den Beschwer­de­füh­re­rinnen und Beschwer­de­­füh­rern gegenüber weitergehende Kandi­da­tur­mög­lich­keiten einräume. Die Regelung knüpfe für die Zugangs­mög­lich­keiten zu den Vorlisten und damit zu den Listenplätzen einer Partei unmittelbar an das Geschlecht der sich bewerbenden Person an und führe damit zugleich zu einer Benachteiligung von Frauen und Männern wegen ihres Geschlechts jedenfalls gegenüber Personen des dritten Geschlechts. Aus den bereits zum Organ­streit­ver­fahren des Landesverbandes der NPD dargelegten Gründen hielt das Verfas­sungs­gericht den Gesetzgeber nicht zum Erlass der die Grundrechte der Beschwer­de­führer und Beschwer­de­füh­re­rinnen beein­träch­ti­genden Vorschriften für berechtigt.

Der Antrag des Landesverbandes der AfD im Organ­streit­ver­fahren hatte dagegen keinen Erfolg (VfGBbg 55/19). Das Verfas­sungs­gericht verwarf ihn als unzulässig.

Quelle: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, ra-online (pm/pt)

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