Der Arzt des zugrunde liegenden Streitfalls betreibt seine Praxis im Erdgeschoss seines Wohnhauses und war an jenem Wochenende vom 1. bis 3. Dezember 2006 zum Notdienst eingeteilt. Er erhielt zwischen 21 Uhr und 22 Uhr einen Anruf aus einem anderen Ortsteil der Gemeinde, wonach es einer älteren Dame sehr schlecht gehe. Der Arzt bestellte die Frau für 23 Uhr in seine Praxis. Die Nichte der alleinlebenden Frau, die an Diabetes mellitus litt und an jenem Abend hohe Blutzuckerwerte hatte, fuhr mit ihrem Mann und dessen Mutter, die den Weg zur Praxis weisen sollte, die Tante zur Arztpraxis, die sie zwischen 23 Uhr und 23.10 Uhr erreichten. Die Tante hatte sich unterwegs mehrfach übergeben, was die Fahrt verzögert hatte. Trotz mehrfachen Läutens an allen Klingeln, die sich im Eingangsbereich des Hauses befanden, wurde ihnen die Tür nicht geöffnet. Da sich der Zustand der alten Dame zunehmend verschlechterte, fuhren die Verwandten sie ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort mussten sie, wie andere, vor ihnen eingetroffene Hilfesuchende auch, längere Zeit an der Notaufnahme warten. Einem Arzt fiel der schlechte Gesundheitszustand der Frau auf, ihre Behandlung wurde vorgezogen und ein schwerer Herzinfarkt festgestellt, an dem sie in der Nacht noch verstarb.
Der Ehemann der Nichte der Verstorbenen, ein Polizeioberkommissar, erstattete Anzeige. Nach Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen fahrlässiger Tötung leitete die Landeärztekammer Hessen ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen Berufspflichten ein, das dann zur Anschuldigung beim Berufsgericht für Heilberufe führte. Im gesamten Verfahren bestritt der Arzt, ein Klingeln an seiner Praxistür oder im Wohnhaus wahrgenommen zu haben. Er habe zwischen 23 Uhr und 23.20 Uhr in der Praxis vergeblich auf die angekündigte Person gewartet. Nach umfangreicher Beweisaufnahme gelangte das Gericht zu der Überzeugung, dass die Kranke mit ihren Angehörigen tatsächlich vergeblich an der Eingangstür zur Praxis und zum Haus geläutet bzw. gewartet hatte.
Das Gericht verurteilte den Arzt wegen Verstoßes gegen seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 22 Hessisches Heilberufsgesetz. Nach Auffassung der Richter hat ein Arzt, der gemäß seiner Verpflichtung aus § 23 Hessisches Heilberufsgesetz zum Notdienst eingeteilt ist, alle Personen in ärztliche Obhut zu nehmen, die um ärztliche Hilfe nachsuchen. Der Arzt muss auch tatsächlich und nicht nur telefonisch erreichbar sein. Eine Fallgestaltung, nach welcher das Ansinnen um ärztlichen Beistand erkennbar überflüssig, unsinnig oder aus sonstigen Gründen für den Arzt nicht zumutbar wäre, habe hier ersichtlich nicht vorgelegen. Allerdings beinhalte diese Verpflichtung zur Leistung ärztlicher Fürsorge im Notdienst nicht, dass der Arzt auch tatsächlich eine Heilbehandlung durchführe. Er sei vielmehr lediglich verpflichtet, sein ärztliches Wissen/Können zur Prüfung des ihm vorgetragenen oder vor Augen geführten Leidens dergestalt einzusetzen, dass er entscheide, ob Behandlungsbedürftigkeit vorliege und, ggf., wie und vom wem die Behandlung durchgeführt werde.
Diese Verpflichtung bestehe derzeit als eine Art „hergebrachte Regel ärztlicher Berufsausübung“ auf der Grundlage der §§ 22, 23 Hessisches Heilberufsgesetz, sie könne allerdings nicht, wie die Landesärztekammer offenbar meine, auf die „Notdienstordnung der kassenärztlichen Vereinigung Hessen“ gestützt werden, da der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen insoweit keine Regelungsbefugnis gegenüber den Ärzten zustehe. Das Hessische Heilberufsgesetz in Verbindung mit der einschlägigen Berufsordnung sehe vor, dass die Landesärztekammer selbst für die Einrichtung und Durchführung eines Notfalldienstes Richtlinien erlasse (§ 26 Absatz 2 der Berufsordnung). Diese lägen aber bisher nicht vor, so dass auf die allgemeine gesetzliche Regelung der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung zurückgegriffen werden müsse.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.11.2010
Quelle: Verwaltungsgericht Gießen/ra-online