15.11.2024
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Sie sehen eine Szene aus einem Krankenhaus, speziell mit einem OP-Saal und einem Arzt im Vordergrund.
ergänzende Informationen

Verwaltungsgericht Gießen Urteil20.10.2010

Patientin durch Herzinfarkt verstorben – Gericht verurteilt Arzt wegen Nichtannahme einer Patientin während des NotdienstesGeldbuße und Verweis wegen Verstoßes gegen die Berufspflicht

Ein Arzt, der zum Notdienst eingeteilt ist, muss auch tatsächlich und nicht nur telefonisch erreichbar sein. Dies entschied das Berufsgericht für Heilberufe beim Verwal­tungs­gericht Gießen und verhängte gegenüber einem Allge­mein­me­diziner eine Geldbuße in Höhe von 3.000 Euro und erteilte ihm wegen Verstoßes gegen seine Berufspflichten einen Verweis. Der Arzt hatte eine Notfa­ll­pa­tientin in die Praxis bestellt und dann angeblich nicht an der Tür gehört. Die Patientin verstarb im Krankenhaus durch einen Herzinfarkt.

Der Arzt des zugrunde liegenden Streitfalls betreibt seine Praxis im Erdgeschoss seines Wohnhauses und war an jenem Wochenende vom 1. bis 3. Dezember 2006 zum Notdienst eingeteilt. Er erhielt zwischen 21 Uhr und 22 Uhr einen Anruf aus einem anderen Ortsteil der Gemeinde, wonach es einer älteren Dame sehr schlecht gehe. Der Arzt bestellte die Frau für 23 Uhr in seine Praxis. Die Nichte der alleinlebenden Frau, die an Diabetes mellitus litt und an jenem Abend hohe Blutzuckerwerte hatte, fuhr mit ihrem Mann und dessen Mutter, die den Weg zur Praxis weisen sollte, die Tante zur Arztpraxis, die sie zwischen 23 Uhr und 23.10 Uhr erreichten. Die Tante hatte sich unterwegs mehrfach übergeben, was die Fahrt verzögert hatte. Trotz mehrfachen Läutens an allen Klingeln, die sich im Eingangsbereich des Hauses befanden, wurde ihnen die Tür nicht geöffnet. Da sich der Zustand der alten Dame zunehmend verschlechterte, fuhren die Verwandten sie ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort mussten sie, wie andere, vor ihnen eingetroffene Hilfesuchende auch, längere Zeit an der Notaufnahme warten. Einem Arzt fiel der schlechte Gesund­heits­zustand der Frau auf, ihre Behandlung wurde vorgezogen und ein schwerer Herzinfarkt festgestellt, an dem sie in der Nacht noch verstarb.

Lande­ärz­te­kammer Hessen leitet Ermitt­lungs­ver­fahren wegen Verstoßes gegen Berufspflichten ein

Der Ehemann der Nichte der Verstorbenen, ein Polizei­o­ber­kom­missar, erstattete Anzeige. Nach Einstellung des straf­recht­lichen Ermitt­lungs­ver­fahrens wegen fahrlässiger Tötung leitete die Lande­ärz­te­kammer Hessen ein Ermitt­lungs­ver­fahren wegen Verstoßes gegen Berufspflichten ein, das dann zur Anschuldigung beim Berufsgericht für Heilberufe führte. Im gesamten Verfahren bestritt der Arzt, ein Klingeln an seiner Praxistür oder im Wohnhaus wahrgenommen zu haben. Er habe zwischen 23 Uhr und 23.20 Uhr in der Praxis vergeblich auf die angekündigte Person gewartet. Nach umfangreicher Beweisaufnahme gelangte das Gericht zu der Überzeugung, dass die Kranke mit ihren Angehörigen tatsächlich vergeblich an der Eingangstür zur Praxis und zum Haus geläutet bzw. gewartet hatte.

Arzt muss während des Notdienstes alle Personen in ärztliche Obhut nehmen, die um ärztliche Hilfe nachsuchen

Das Gericht verurteilte den Arzt wegen Verstoßes gegen seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 22 Hessisches Heilbe­rufs­gesetz. Nach Auffassung der Richter hat ein Arzt, der gemäß seiner Verpflichtung aus § 23 Hessisches Heilbe­rufs­gesetz zum Notdienst eingeteilt ist, alle Personen in ärztliche Obhut zu nehmen, die um ärztliche Hilfe nachsuchen. Der Arzt muss auch tatsächlich und nicht nur telefonisch erreichbar sein. Eine Fallgestaltung, nach welcher das Ansinnen um ärztlichen Beistand erkennbar überflüssig, unsinnig oder aus sonstigen Gründen für den Arzt nicht zumutbar wäre, habe hier ersichtlich nicht vorgelegen. Allerdings beinhalte diese Verpflichtung zur Leistung ärztlicher Fürsorge im Notdienst nicht, dass der Arzt auch tatsächlich eine Heilbehandlung durchführe. Er sei vielmehr lediglich verpflichtet, sein ärztliches Wissen/Können zur Prüfung des ihm vorgetragenen oder vor Augen geführten Leidens dergestalt einzusetzen, dass er entscheide, ob Behand­lungs­be­dürf­tigkeit vorliege und, ggf., wie und vom wem die Behandlung durchgeführt werde.

Allgemeine gesetzliche Regelung der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung muss beachtet werden

Diese Verpflichtung bestehe derzeit als eine Art „hergebrachte Regel ärztlicher Berufsausübung“ auf der Grundlage der §§ 22, 23 Hessisches Heilbe­rufs­gesetz, sie könne allerdings nicht, wie die Landes­ärz­te­kammer offenbar meine, auf die „Notdien­st­ordnung der kassen­ärzt­lichen Vereinigung Hessen“ gestützt werden, da der Kassen­ärzt­lichen Vereinigung Hessen insoweit keine Regelungs­be­fugnis gegenüber den Ärzten zustehe. Das Hessische Heilbe­rufs­gesetz in Verbindung mit der einschlägigen Berufsordnung sehe vor, dass die Landes­ärz­te­kammer selbst für die Einrichtung und Durchführung eines Notfalldienstes Richtlinien erlasse (§ 26 Absatz 2 der Berufsordnung). Diese lägen aber bisher nicht vor, so dass auf die allgemeine gesetzliche Regelung der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung zurückgegriffen werden müsse.

Quelle: Verwaltungsgericht Gießen/ra-online

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