23.11.2024
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Verwaltungsgericht Freiburg Urteil22.09.2010

Von der Würde des Doktors: Der Fall Schön - Zur Entziehung des Doktortitels wegen UnwürdigkeitDie Entziehung des Doktorgrades ist nur bei Begehung einer besonders missbilligten Straftat möglich

Ein rechtmäßig erworbener Doktorgrad kann nur unter sehr begrenzten Voraussetzungen wieder entzogen werden. Es reicht nicht, dass die Hochschule, die den Titel verliehen hat, im Nachhinein eine "Unwürdigkeit" im Sinn eines nachträglichen wissen­schaft­lichen Fehlverhaltens feststellt. Vielmehr gebietet das Grundgesetz eine restriktive Auslegung des Begriffs der "Unwürdigkeit". Danach setzt "Unwürdigkeit" eine von der Allgemeinheit besonders missbilligte, vorsätzliche und ehrenrührige Straftat voraus, die ein die durch­schnittliche Straftat übersteigendes Unwerturteil enthält und zu einer tiefgreifenden Abwertung der Persönlichkeit führt.

Dem vom Verwal­tungs­gericht Freiburg entschiedenen Verfahren liegt der sogenannte Fall "Schön" zugrunde. Der Kläger hatte als Physiker an der Universität Konstanz promoviert. Später ging er in die USA. Dort arbeitete er zwischen 1998 und 2002 an einer Forschungs­ein­richtung. In dieser Zeit war er an über 70 wissen­schaft­lichen Publikationen beteiligt, die in der Fachwelt teilweise als bahnbrechend gewürdigt wurden. Im Jahr 2001 veröffentlichte er im Schnitt alle 8 Tage einen Fachartikel. Später stellte sich jedoch heraus, dass er in einer Vielzahl der Publikationen wissen­schaftliche Messdaten gefälscht hatte, also sich wissen­schaft­lichen Fehlverhaltens schuldig gemacht hat. Daraufhin wurde er fristlos entlassen.

Universität sieht ihren Ruf beschädigt und entzieht den Doktorgrad

Daraufhin entzog ihm die Universität Konstanz, an der er promoviert hatte, den 1998 verliehenen Doktorgrad. Die Universität begründete dies mit dem nachgewiesenen wissen­schaft­lichen Fehlverhalten durch Daten­ma­ni­pu­lation, Präsentation von Daten in falschem Zusammenhang und künstliche Erzeugung von Daten. Das Ausmaß sei in der deutschen Wissen­schafts­ge­schichte bisher beispiellos. Deshalb habe er sich der Führung des Doktorgrades als unwürdig im Sinne des § 35 LHG (Landes­hoch­schul­gesetz des Landes Baden-Württemberg) erwiesen. Den Begriff "unwürdig" verstehe die Universität wissen­schafts­bezogen. Wissen­schaft­liches Fehlverhalten dieser Tragweite unter Inkaufnahme der Beschädigung der notwendigen Vertrauensbasis innerhalb des Wissen­schafts­be­triebes sowie der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft in der Öffentlichkeit sei unvereinbar mit der Doktorwürde.

Die Dissertation war korrekt - Vorwürfe betreffen nur Fehlverhalten in späteren Publikationen

Hiergegen wendete sich Kläger. Zum einen sei die Mitwirkung der anderen Autoren kaum gewürdigt worden. Zum anderen sei § 35 LHG aus verfas­sungs­recht­licher Sicht nicht mehr haltbar. Der Begriff der "Würdigkeit" verstoße als zu weite und mehrdeutige Generalklausel gegen das im Rechts­s­taats­prinzip verankerte Bestimmt­heitsgebot. Sein Verhalten könne auch dessen ungeachtet nicht als unwürdig im Sinne dieser Vorschrift erachtet werden. Denn seine erfolgreiche Doktorarbeit, aufgrund der ihm der Doktorgrad verliehen worden war, sei ordentlich zustande gekommen. Diesbezüglich hatte die Universität ihm kein wissen­schaft­liches Fehlverhalten vorgeworfen.

Grundgesetz gebietet enge Auslegung des Begriffs der Unwürdigkeit

Das Verwal­tungs­gericht Freiburg gab dem Kläger Recht und hob den Bescheid der Universität auf. Selbst unterstellt, dass § 35 LHG verfas­sungsgemäß sei, sei die von der Universität vorgenommene "wissen­schafts­be­zogene Auslegung" des Begriffs der Unwürdigkeit nicht zulässig. Eine solche Auslegung hätte zur Folge, dass nachträgliches wissen­schaft­liches Fehlverhalten ohne jede strafrechtliche Relevanz den Begriff der Unwürdigkeit erfüllen würde und zum Anlass genommen werden könnte, einen rechtmäßig erworbenen akademischen Grad nachträglich zu entziehen. Deshalb sei der Begriff der Unwürdigkeit restriktiv auszulegen. Voraussetzung sei eine von der Allgemeinheit besonders missbilligte, vorsätzliche und ehrenrührige Straftat, die ein die durch­schnittliche Straftat übersteigendes Unwerturteil enthalte und zu einer tiefgreifenden Abwertung der Persönlichkeit führe.

Öffentliches Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor dem falschen Schein eines akademischen Grades

Eine solche enge Auslegung sei verfas­sungs­rechtlich geboten. Denn die nachträgliche Entziehung eines akademischen Grades stelle für den Titelinhaber einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht, die Wissenschaftsfreiheit und die Berufs­wahl­freiheit dar. Die nachträgliche Entziehung eines rechtmäßig erlangten akademischen Grades sei nur gerechtfertigt, wenn gewichtige öffentliche Interessen sie erfordern. Der wissen­schaftliche Ruf der Hochschule sei jedoch kein verfas­sungs­rechtlich geschütztes Gut, das einen solchen Grund­recht­s­eingriff rechtfertigen könnte. Das maßgebliche öffentliche Interesse könne deshalb nur im Schutz der Allgemeinheit vor dem falschen Schein der Lauterkeit des Inhabers eines akademischen Grades liegen.

Nachträglicher Entzug des Doktorgrades war unver­hält­nismäßig

Im Fall des Klägers sei der nachträgliche Entzug des Doktorgrades unver­hält­nismäßig. Die Annahme der Universität, die wissen­schaftliche Gemeinschaft müsse durch diese Maßnahme vor Irreführung über den Schein einer bestehenden Würdigkeit geschützt werden, rechtfertige den gravierenden Eingriff nicht. Denn in der Öffentlichkeit sei der als Wissen­schaftss­kandal behandelte Fall international kommuniziert worden. Bereits dadurch sei die Wissen­schafts­ge­mein­schaft mit allen gegen den Kläger erhobenen Vorwürfen vertraut gemacht worden.

Bloße Sankti­o­ns­absicht rechtfertigt Entzug des Doktorgrades nicht

Zudem sei es so, dass die Autoren der wissen­schaft­lichen Publikationen in der Physik in Fachzeit­schriften neben ihrem Namen niemals den Doktortitel angeben und auch durch die Angabe des Doktortitels keine erhöhte Vermutung für die wissen­schaftliche Redlichkeit der publizierten Ergebnisse erzeugt werde. Unter diesen Umständen sei nicht erkennbar, dass die Verfahren zur Entziehung des Doktorgrades noch eine eigenständige Funktion hinsichtlich des Schutzes der Wissen­schafts­ge­meinde habe. Vielmehr stelle sich der Entzug des Doktorgrades unter diesen Umständen als nachträgliche Sanktion des Klägers für sein vorgeworfenes Verhalten dar. Das sei aber mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht zu vereinbaren.

Quelle: ra-online, Verwaltungsgericht Freiburg (vt/we)

der Leitsatz

Ein rechtmäßig verliehener Doktorgrad kann von der Hochschule nicht gemäß § 35 Absatz 7 Satz 1 LHG nachträglich wegen wissen­schaft­lichen Fehlverhaltens des Titelinhabers entzogen werden. Der Begriff der "Unwürdigkeit" ist nicht wissen­schafts­bezogen, sondern restriktiv in dem Sinne auszulegen, dass er nur erfüllt ist, wenn der Titelinhaber eine von der Allgemeinheit besonders missbilligte, vorsätzliche Straftat begangen hat, die ein besonderes Unwerturteil enthält.

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