21.11.2024
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Staatsgerichtshof des Landes Hessen Urteil11.06.2008

Hessen: Studiengebühr ist verfas­sungsgemäßAllgemeine Studienbeiträge mit Hessischer Verfassung vereinbar

Der Hessische Staats­ge­richtshof hat die Normen­kon­trol­lanträge von 45 Abgeordneten des 16. Hessischen Landtags, der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im 16. Hessischen Landtag und der Landes­an­walt­schaft (Verfahren P.St. 2133) sowie von Stimm­be­rech­tigten des Volkes (P.St. 2158) gegen das Gesetz zur Einführung von Studien­bei­trägen an den Hochschulen des Landes vom 16. Oktober 2006 als unbegründet zurückgewiesen und entschieden, dass dieses Gesetz mit der Hessischen Verfassung vereinbar ist.

Die Mitglieder des Staats­ge­richtshofs Prof. Dr. Lange, Falk, Giani, Dr. Klein und von Plottnitz haben ihre abweichende Meinung zu dem Urteil in einem Sondervotum niedergelegt. In verfas­sungs­pro­zes­sualer Hinsicht hat der Staats­ge­richtshof erstmals über die Antrags­be­rech­tigung der Fraktionen des Hessischen Landtags im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 4 des Gesetzes über den Staats­ge­richtshof entschieden und diese bestätigt. Die Fraktionen würden zwar in Art. 131 Abs. 2 der Hessischen Verfassung (kurz: HV) nicht als antrags­be­rechtigt erwähnt. Die darin enthaltene Aufzählung sei jedoch nicht abschließend, so dass der Gesetzgeber den Kreis der Antrags­be­rech­tigten habe erweitern dürfen.

Im Mittelpunkt der Prüfung stand die Vereinbarkeit allgemeiner Studienbeiträge mit Art. 59 Abs. 1 HV, der wie folgt lautet:

„In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muss vorsehen, dass für begabte Kinder sozial Schwä­cher­ge­stellter Erzie­hungs­bei­hilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, dass ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unter­halts­pflichtigen es gestattet.“

Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV sieht Unter­richts­geld­freiheit vor

Der Staats­ge­richtshof entschied, dass die durch das Hessische Studien­bei­trags­gesetz eingeführte allgemeine Studien­bei­trags­pflicht mit Art. 59 Abs. 1 HV vereinbar ist. Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV sehe zwar generell die Unter­richts­geld­freiheit vor, die auch die Unent­gelt­lichkeit des Hochschul­zugangs umfasse. Satz 4 des Art. 59 Abs. 1 HV eröffne aber dem Gesetzgeber die Möglichkeit, ein angemessenes Schulgeld zu erheben, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unter­halts­pflichtigen es gestatte. Art. 59 Abs. 1 HV enthalte in der Zusammenschau von Satz 1 und Satz 4 keine Garantie der Unent­gelt­lichkeit des Hochschul­studiums und auch kein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten einer Unent­gelt­lichkeit, sondern das Gebot der Bildung­s­chan­cen­gleichheit: Auch dem sozial Schwächeren solle eine akademische Ausbildung nicht deshalb verschlossen sein, weil er die Mittel für das Unterrichtsgeld nicht aufbringen könne. Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV beinhalte einen qualifizierten Geset­zes­vor­behalt, der die Entscheidung über die Zahlung eines Schulgeldes – und damit auch von Studien­bei­trägen – ausdrücklich vorsehe und sie dem Gesetzgeber überantworte. Wenn der Gesetzgeber in diesem Sinn handele, sei die ansonsten verfas­sungs­un­mit­telbar geltende Unter­richts­geld­freiheit des Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV eingeschränkt.

Von dieser Ermächtigung habe der Gesetzgeber mit dem Hessischen Studien­bei­trags­gesetz in verfas­sungs­gemäßer Weise Gebrauch gemacht.

Studenten können Studiendarlehen beantragen

Der Gesetzgeber sei berech­tig­terweise davon ausgegangen, dass alle Studierenden an hessischen Hochschulen im Rahmen ihres Erststudiums in der wirtschaft­lichen Lage seien, das Schulgeld in Form des Grund­s­tu­dien­beitrags von 500 Euro je Semester zu zahlen. Denn ihnen stehe gemäß § 7 HStubeiG ein Anspruch auf Gewährung eines Studi­en­da­r­lehens in Höhe der Semes­ter­beiträge gegenüber der Landes­treu­hand­stelle Hessen zu. Da dieses Darlehen bonitäts­u­n­ab­hängig und ohne Sicherheit gewährt wer de, stehe die Inanspruchnahme jedem Studierenden unabhängig von seiner wirtschaft­lichen Situation offen. Daher stelle die Erhebung der Grund­s­tu­dien­beiträge kein Hindernis für die Aufnahme eines Studiums in Hessen dar, denn auf bloßen Antrag des Studierenden hin werde die Zahlung der Semes­ter­beiträge von der Landes­treu­hand­stelle darlehensweise übernommen.

Indem Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV die Anordnung eines Schulgeldes erlaube, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unter­halts­pflichtigen es gestatte, werde allein auf die Fähigkeit zur Zahlung des Schulgeldes abgestellt. Maßgeblich sei, dass dem Studierenden der Zugang zum Studium nicht deshalb verwehrt sein dürfe, weil er den Studienbeitrag nicht zahlen könne. Da der Gesetzgeber allen Studien­be­werbern und Studierenden bonitäts­u­n­ab­hängige Studiendarlehen zur Verfügung stelle, könne jeder über die erforderlichen Mittel zur Begleichung der Grund­s­tu­dien­beiträge von 500 Euro je Semester verfügen und sei der Zugang zu dem Darlehen auch für völlig mittellose Studierende gesichert. Der Gesetzgeber habe sich mit der Bereitstellung bonitäts­u­n­ab­hängiger Darlehen ohne Verfas­sungs­verstoß gegen eine individuelle Feststellung der wirtschaft­lichen Lage der Studienbewerber und Studierenden entschieden, um den hierfür erforderlichen Verwal­tungs­aufwand zu vermeiden und die Studienbeiträge von 500 Euro pro Semester möglichst ungeschmälert für die beabsichtigte Verbesserung der Lehre an den Hochschulen des Landes Hessen zur Verfügung zu stellen. Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelung sei die Zusage des Staates, dass jeder ohne eigene Mittel studieren kann. Entsprechend dem Zweck des Art. 59 Abs. 1 HV, dem Tüchtigen „freie Bahn“ beim Zugang zum Studium zu gewährleisten, habe der Gesetzgeber die Darle­hens­be­din­gungen so gestaltet, dass die Inanspruchnahme des Darlehens auch für mittellose Studierende zumutbar sei.

Auch wirtschaftlich Schwä­cher­ge­stellte sind ausreichend geschützt

Während des Studiums seien keine Tilgungs­leis­tungen zu erbringen und keine Zinsen zu zahlen. Für wirtschaftlich Schwä­cher­ge­stellte, ausgewiesen durch die Feststellung ihres Anspruchs auf Leistungen nach dem Bundes­aus­bil­dungs­för­de­rungs­gesetz, träten keine Zinsbelastungen hinzu, da ihnen das Darlehen zinslos gewährt werde. Die Pflicht zur Rückzahlung von Darlehens- und Zinsschuld setze frühestens zwei Jahre nach Abschluss des Studiums, spätestens elf Jahre nach Aufnahme des Studiums, ein und sei abhängig von dem dann erzielten Einkommen. Solange nicht die Einkom­mens­grenzen nach § 18 a BAföG zuzüglich weiterer 300 Euro erreicht würden, bestehe ein Anspruch auf Stundung des Darlehens. Bei Eintritt der Tilgungs- und Zinszah­lungs­pflicht sei die Mindestzahlung des Darle­hens­nehmers auf 50 Euro monatlich beschränkt. Die Rückzah­lungs­pflicht sei unter den Voraussetzungen des § 8 Abs. 3 HStubeiG auf 15.000 Euro beschränkt und ende in jedem Fall 25 Jahre nach ihrem Beginn. Diese sozialen Abfederungen machten den Verweis auf das Darlehen auch für wirtschaftlich Schwä­cher­ge­stellte zumutbar. Dass nur BAföG-Berechtigte von der Zinszah­lungs­pflicht befreit seien, sei sachgerecht und geeignet, der von Art. 59 Abs. 1 HV intendierten Bildung­s­chan­cen­gleichheit Rechnung zu tragen.

Soweit die (erhöhte) Studien­bei­trags­pflicht Absolventen eines Zweitstudiums oder Studierende nach Überschreiten der Regel­stu­di­enzeit trifft, hat der Staats­ge­richtshof an seiner Rechtsprechung festgehalten, dass solche Studierende nicht dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 59 Abs.1 HV unterfallen. Denn Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV garantiere, vorbehaltlich seines Satzes 4, nur die Unent­gelt­lichkeit eines Erststudiums von angemessener Dauer.

Soweit sich die Antragsteller gegen weitere Regelungen des angegriffenen Gesetzes im Einzelnen gewandt haben, hat der Staats­ge­richtshof diese Bedenken ebenfalls zurückgewiesen.

So konnte ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 1 HV, auch in seiner besonderen Ausprägung als Diskri­mi­nie­rungs­verbot gegenüber Frauen, ebenso wenig festgestellt werden wie eine Verletzung sonstiger verfas­sungs­recht­licher Prinzipien, insbesondere des in der Hessischen Verfassung wie im Grundgesetz verankerten Rechts­s­taats­prinzips.

Eine Prüfung der Vereinbarkeit des angegriffenen Gesetzes mit dem UN-Sozialpakt hat der Staats­ge­richtshof abgelehnt, da völker­rechtliche Verträge des Bundes nicht Maßstab im Rahmen einer Normenkontrolle vor dem Staats­ge­richtshof sein können.

Abweichende Meinung

Die Mitglieder des Staats­ge­richtshofs Prof. Dr. Lange, Falk, Giani, Dr. Klein und von Plottnitz begründen ihre abweichende Meinung zusammenfassend insbesondere wie folgt:

Die durch das Hessische Studien­bei­trags­gesetz eingeführte allgemeine Studien­bei­trags­pflicht ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungs­fä­higkeit des einzelnen Studierenden sei das Gegenteil der in Art. 59 Abs. 1 HV gewährleisteten Unent­gelt­lichkeit des Hochschul­un­ter­richts. Sie lasse sich auch nicht nach Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV dadurch rechtfertigen, dass alle Studierenden Anspruch auf ein rückzahlbares und grundsätzlich verzinsliches Studiendarlehen zur Finanzierung der Studienbeiträge hätten. Dadurch, dass Studierende, welche die Studienbeiträge nicht selbst aufbringen könnten, zur Begleichung der Studienbeiträge ein solches Darlehen aufnehmen müssten, würde ihre wirtschaftliche Lage im Sinne des Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV nicht verbessert, sondern verschlechtert. In Wirklichkeit eröffne die Darle­hens­re­gelung des Studien­bei­trags­ge­setzes lediglich die Möglichkeit, die Studienbeiträge abzuzahlen. Wenn in der Hessischen Verfassung stehe „Der Unterricht ist unentgeltlich“, dann bedeute das aber „Es kostet nichts“ und nicht „Du kannst es später abzahlen“.

Damit, dass die Studiendarlehen verzinst werden müssten, sei den auf sie angewiesenen Studierenden überdies eine mit Art. 59 Abs. 1 HV und dem Gleichheitssatz des Art. 1 HV unvereinbare Belastung im Vergleich mit den Studierenden auferlegt, welche die Studienbeiträge ohne Aufnahme eines Darlehens bezahlen könnten. Sein ausdrückliches Ziel, alle BAföG-berechtigten Studierenden von der Verpflichtung zur Zinszahlung freizustellen, habe der Gesetzgeber nicht erreicht, weil er diese Freistellung auf diejenigen Studierenden beschränkt habe, deren BAföG-Berechtigung festgestellt worden sei, und sie all denjenigen vorenthalten habe, die BAföG-berechtigt seien, aber keinen BAföG-Antrag stellten, um sich nicht verschulden zu müssen. Im Ergebnis zwinge der Gesetzgeber mit dem Hessischen Studien­bei­trags­gesetz die Studierenden, die die Zinsbefreiung nach § 7 Abs. 1 Satz 6 HStubeiG in Anspruch nehmen wollen, sich nicht nur nach dem Hessischen Studien­bei­trags­gesetz, sondern auch nach dem Bundes­aus­bil­dungs­för­de­rungs­gesetz zu verschulden. Mit dieser Zukunfts­be­lastung verschlechtere er die wirtschaftliche Lage wirtschaftlich schwacher Studierender noch zusätzlich und erhöhe im Widerspruch zur Hessischen Verfassung die Barrieren, die deren Studienaufnahme entgegenstünden.

Verfas­sungs­widrig sei es außerdem, dass das Studien­bei­trags­gesetz auch diejenigen Studierenden – und damit offenbar die Mehrheit der gegenwärtig in Hessen Studierenden – beitrags­pflichtig mache, die ihr Studium vor der Verkündung des Gesetzes am 19. Oktober 2006 begonnen hätten. Damit sei die Zusage gebrochen worden, die der hessische Gesetzgeber in § 1 des Hessischen Studien­gut­ha­ben­ge­setzes vom 18. Dezember 2003 mit der ausdrücklichen Bestimmung selbst gegeben habe, dass an den Hochschulen des Landes das gebührenfreie Studium bis zum Erwerb eines ersten berufs­qua­li­fi­zie­renden Abschlusses durch Studienguthaben gewährleistet werde. Die Verletzung des hierdurch begründeten Vertrauens verletze das in der Hessischen Verfassung wie im Grundgesetz verankerte Rechts­s­taats­prinzip.

Wenn der Gesetzgeber sich bei der nach Art. 59 Abs. 1 HV grundsätzlich möglichen Erhebung von Studien­ent­gelten nicht in den von der Verfassung gezogenen Grenzen halten wolle, bedürfte es einer Verfas­sung­s­än­derung. Eine solche Verfas­sung­s­än­derung, die nach Art. 123 Abs. 2 HV voraussetze, dass der Landtag sie mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder beschließe und das Volk mit der Mehrheit der Abstimmenden zustimme, könne durch eine Auslegung der Verfassung, wie sie von der Mehrheit vorgenommen worden sei, nicht ersetzt werden. Das vollständige Urteil nebst Sondervotum kann von der Homepage des Staats­ge­richtshofs unter www.staats­ge­richtshof.hessen.de abgerufen werden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des Staatsgerichtshof Hessen vom 11.06.2008

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