18.10.2024
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Oberlandesgericht Stuttgart Urteil21.11.2016

Jugendlicher wegen vorübergehender Mitgliedschaft im "IS" zu zwei Jahren auf Bewährung verurteiltFrühe Distanzierung vom IS und Hafterfahrungen in Gefängnissen des IS maßgeblich für Strafaussetzung

Das Oberlan­des­gericht Stuttgart hat einen 20-jährigen Mann, der in Deutschland aufgewachsen und sich vorrübergehend in Syrien dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen hatte, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach §§ 129 a und b Strafgesetzbuch zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Nach den Feststellungen des Oberlan­des­ge­richts erstrebt der "Islamische Staat" (IS) die Errichtung eines als "Kalifat" bezeichneten Gottesstaates unter der Geltung der Scharia im Irak, im Norden und Osten Syriens und in den Nachbarländern sowie als Fernziel die Durchsetzung eines weltweiten Kalifats. Zur Durchsetzung ihrer Ziele setzt die hierarchisch strukturierte Vereinigung neben dem offenen militärischen Bodenkampf auch Sprengstoff- und Selbst­mor­d­an­schläge ein, aber auch Massen­hin­rich­tungen und spektakulär inszenierte Enthauptungen. In den von ihr kontrollierten Gebieten errichtet die Organisation eine staatsähnliche Verwaltung, die unter anderem die Geltung der Scharia mit drakonischen Strafen durchsetzt.

Sachverhalt

Das Oberlan­des­gericht gelangte zudem zu der Überzeugung, dass sich der Angeklagte Ende 2014 dazu entschloss, künftig im "Kalifat" leben und dem "Islamischen Staat" als Kämpfer dienen zu wollen. Insbesondere aufgrund der Inter­net­pro­paganda des IS erschien ihm ein Leben im "Kalifat" als so verlockend, dass er hierfür die Gewalt­tä­tig­keiten des IS hinnahm. Ende Februar 2015 reiste der Angeklagte aus Deutschland aus und traf Anfang März 2015 in Syrien ein. Dort durchlief er eine knapp dreiwöchige militärische Grundausbildung, in der er unter anderem am Sturmgewehr AK 47 und am Maschinengewehr ausgebildet wurde. Zu einem Kampfeinsatz des Angeklagten kam es in der Folgezeit nicht. Im Mai oder Juni 2015 entschloss sich der Angeklagte, nach Deutschland zurückzukehren. Ein erster Fluchtversuch scheiterte, worauf der Angeklagte knapp zwei Wochen in einem Gefängnis des "Islamischen Staats" inhaftiert wurde. Kurz nach seiner Freilassung unternahm der Angeklagte Anfang Juli 2015 einen zweiten Fluchtversuch. Noch bevor er türkisches Staatsgebiet erreichte, wurde er jedoch von einer kurdischen Rebellengruppe festgehalten und erneut für knapp zwei Wochen inhaftiert. Im Anschluss konnte er in die Türkei fliehen, wo er abermals festgenommen wurde und sich bis Oktober 2015 in Untersuchungs- und Abschiebehaft befand. Im Oktober 2015 wurde er von der Türkei nach Deutschland abgeschoben und befand sich dort ebenfalls in Unter­su­chungshaft, bis der Bundes­ge­richtshof den Haftbefehl am 10. Dezember 2015 außer Vollzug setzte.

Angeklagter nahm bei Flucht vor dem IS beachtliche persönliche Risiken auf sich

Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Oberlan­des­gericht unter anderem, dass der weitgehend geständige Angeklagte sich schon nach kurzer Zeit in Syrien freiwillig dazu entschloss, wieder nach Deutschland zurückzukehren, und bei seiner Flucht vor dem IS beachtliche persönliche Risiken auf sich nahm. Schon während seiner Haft bei der kurdischen Rebellengruppe machte der Angeklagte umfangreiche Angaben zu Gebäuden und Trainings­ört­lich­keiten, die vom IS genutzt wurden, und leistete so einen Beitrag zur Bekämpfung dieser Organisation. Aus Anlass der Tat war der Angeklagte mehrfach und unter teils schwierigen Bedingungen inhaftiert. Auf der anderen Seite fiel ins Gewicht, dass es sich beim IS um eine besonders gefährliche und mit äußerster Brutalität vorgehende terroristische Vereinigung handelt. Für die Strafaussetzung war insbesondere maßgeblich, dass sich der bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Angeklagte schon früh und eindeutig vom IS distanzierte und von den Hafterfahrungen tief beeindruckt ist.

Relevante Normen:

Erläuterungen

§ 129 a Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) - Auszug

Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völker­straf­ge­setz­buches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völker­straf­ge­setz­buches) oder Kriegs­ver­brechen (§§ 9, 10, 11 oder § 12 des Völker­straf­ge­setz­buches) … zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

§ 129 b Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB)

Die §§ 129 und 129a gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet. In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundes­mi­nis­teriums der Justiz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.

Quelle: Oberlandesgericht Stuttgart/ra-online

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